© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Verbote und ihre soziale Bedeutung
Ich darf nicht, also bin ich
Sebastian Moll

Selbst die großen Heiligen kennen den Reiz des Verbotenen. Der Kirchenvater Augustinus berichtet in seinen autobiographischen Bekenntnissen, wie er einmal als junger Mann mit seinen Freunden einen Birnbaum auf einem benachbarten Grundstück plünderte. Die Birnen waren weder besonders ansehnlich noch schmackhaft, und die Jungen aßen sie im Anschluß an ihren Diebstahl auch nicht, sondern warfen sie den Schweinen vor. Die Schuldgefühle über dieses Ereignis haben Augustinus bis ins reife Alter verfolgt, wobei ihn weniger die Tat an sich beschäftigte, sondern die Ursache derselben. Er stahl etwas, das er sich problemlos auf legalem Wege hätte verschaffen können und das er überdies noch nicht einmal haben wollte. So kommt er zu dem Schluß, daß er nichts anderes suchte als die Übertretung des Gebots selbst. Es war der Reiz des Verbotenen.

Mit der Geschichte vom unerlaubten Birnenpflücken hat Augustinus, ob bewußt oder unbewußt, ein Beispiel gewählt, das zu den ältesten der Menschheit gehört. Die biblische Geschichte von Adam und Eva, deren Interesse an der Frucht vom Baum der Erkenntnis durch das Verbot geweckt wird, hat den Ausdruck „verbotene Frucht“ sprichwörtlich werden lassen.

Die moderne Psychologie bezeichnet dieses Phänomen als „Reaktanz“, eine menschliche Abwehrreaktion gegenüber Beschränkungen. Für den heutigen urbanen Teenager, von denen die wenigsten in direkter Nachbarschaft eines Birnbaums leben, ist es eher der Reiz verbotener Drogen oder ähnlichem. Nicht ohne Grund wird in der Debatte über die Legalisierung von Cannabis das Argument vorgebracht, der Wegfall des Verbots könne zu einem Rückgang des Konsums führen. Ironischerweise ist gerade diese Vermutung ein Argument gegen die Legalisierung, denn der Reiz des Verbotenen würde sich dann ja zwangsläufig auf härtere Drogen ausweiten und so deren Konsum befördern – aber das ist ein anderes Thema. Auffällig ist vielmehr, daß der Übertreter des Verbots in derartigen Fällen von seiner Umgebung für gewöhnlich als Rebell respektiert, wenn nicht gar gefeiert wird. Verachtet wird hingegen derjenige, der das Vergehen womöglich auffliegen läßt, also die sogenannte Petze.

Wir alle kennen den Reiz des Verbotenen. Es kann aber vorkommen, daß ein Verbot gerade nicht zur Übertretung reizt, sondern statt dessen durch seine Einhaltung regelrecht identitätsstiftend wirkt. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Streik.

Der Reiz des Verbotenen mag für Jugendliche besonders mächtig sein, da sie in ihrer Autonomie stärker eingeschränkt sind als Erwachsene. Doch auch diese kennen Verbote und die mit ihnen verbundene Reaktanz. Womöglich ist es bei ihnen weniger die Verlockung durch Obst oder Drogen. Allerdings war dieses Phänomen beispielsweise während der Prohibition in den Vereinigten Staaten zu beobachten, die bekanntlich den Konsum von Alkohol nicht stoppen konnte, und ihn, wie manche Studien vermuten lassen, sogar erhöht hat. Vielleicht ist es aber auch der Reiz einer verbotenen Beziehung? Tatsächlich gibt es eine Plattform im Internet, die sich „forbidden fruit“ nennt und mit „diskreten Casual Dates“ wirbt …

Nun kann es aber vorkommen, daß ein Verbot gerade nicht zur Übertretung reizt, sondern statt dessen durch seine Einhaltung regelrecht identitätsstiftend wirkt. Eines der bekanntesten Beispiele hierfür ist der Streik. Ruft eine Gewerkschaft zu einem solchen auf, haben alle Arbeitnehmer der entsprechenden Einrichtung Streikrecht. Betont werden muß, daß es sich um ein Streikrecht handelt, eine Streikpflicht gibt es nicht. Auf der Seite der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) heißt es hierzu auf subtile Weise: „Niemand wird zu einem Streik gezwungen. Aber: Alle, die nicht mitmachen, gefährden den Erfolg.“ Der Streikbrecher zieht stets den geballten Haß der Streikenden auf sich, er gilt ihnen als Paria, er entspricht in seiner Beliebtheit in etwa der oben genannten Petze, ironischerweise aber durch entgegensetztes Verhalten.

Insbesondere das Englische kennt wenig schmeichelhafte Bezeichnungen für Streikbrecher, wie etwa „scab“ (Krätze). Der amerikanische Schriftsteller Jack London (1876–1916) schrieb über sie: „Nachdem Gott die Klapperschlange, die Kröte und den Vampir geschaffen hatte, blieb ihm noch etwas abscheuliche Substanz übrig, und daraus machte er einen Streikbrecher […] Wenn ein Streikbrecher die Straße entlanggeht, wenden die Menschen ihm den Rücken, die Engel weinen im Himmel, und selbst der Teufel schließt die Höllenpforte, um ihn nicht hineinzulassen.“ Der Streik wird also nicht als Recht verstanden, sondern als Pflicht, als Pflicht zur Einhaltung des Arbeitsverbots. Dieses Verbot ist es, das der Gruppe ein Gefühl von Zusammengehörigkeit und dem einzelnen ein Gefühl von Bedeutsamkeit schenkt – ich darf nicht, also bin ich.

Elias Canetti spricht in diesem Kontext von einer Verbotsmasse: „Das Negative des Verbots teilt sich dieser Masse vom Augenblick ihrer Geburt an mit und bleibt, solange sie besteht, ihr wesentlichster Zug. Man könnte so auch von einer negativen Masse sprechen […] Das Verbot ist eine Grenze und ein Damm; nichts kann jene überschreiten, nichts diesen durchdringen.“

Canetti erhielt 1981 den Literaturnobelpreis für „sein schriftstellerisches Werk, geprägt von Weitblick, Ideenreichtum und künstlerischer Kraft“. Zweifellos beweist er diesen Weitblick auch hier. „Einer bewacht den anderen, um zu sehen, ob er ein Teil des Dammes bleibt. Wer nachgibt und das Verbot überschreitet, wird von den anderen verpönt.“

Gibt es eine bessere Umschreibung für jene Denunzianten- und Blockwartmentalität, die wir derzeit erleben? Die aktuelle Verbotsorgie führte unter anderem dazu, daß unbescholtenen Bürgern die Polizei auf den Hals gehetzt wird, weil vor ihrer Tür ein Auto mit ortsfremdem Kennzeichnen steht, sie also im „Verdacht“ stehen, Touristen zu sein oder selbige zu beherbergen.

 Ähnlich wie den Reiz des Verbotenen finden wir auch das Phänomen der Verbotsmasse schon in biblischen Zeiten vor. Damals waren die Pharisäer die zuständigen Denunzianten und Blockwarte: „Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“

Wer jedoch meint, erst die aktuelle Corona-Krise hätte zu diesen Verhaltensmustern geführt, der irrt. Bereits die Klimabewegung mit ihren zahllosen Negativanweisungen hat Menschen zu solchem Vorgehen animiert, nur daß Autos hierbei nicht auf ihr Kennzeichen, sondern auf ihren Verbrauch überprüft werden, was den Haltern von „Benzinschleudern“ schon mal einen Zettel an der Windschutzscheibe mit den Worten „Denk’ mal ans Klima!“ einbringen kann.

Die umfassendste Ausformung dieser Verbotsmasse hat uns jedoch, alles andere in den Schatten stellend, die Politische Korrektheit beschert. Durch sie wird nicht nur „inkorrektes“ Verhalten sanktioniert, sondern bereits „inkorrektes“ Sprechen. Wer es heute noch wagt, bestimmte Formulierungen öffentlich zu gebrauchen, die – von welcher Institution eigentlich? – als unzulässig eingestuft worden sind, erfährt eine gesellschaftliche Ächtung, die ansonsten Kapitalverbrechern vorbehalten ist.

Typisch deutsch, wie manche meinen, ist die Einstellung allerdings keineswegs. Ähnlich wie den Reiz des Verbotenen finden wir auch das Phänomen der Verbotsmasse bereits in biblischen Zeiten vor. Damals waren die Pharisäer die zuständigen Denunzianten und Blockwarte. Gleich zu Beginn des Markus­evangeliums wird uns berichtet, wie Jesus am Sabbat durch ein Kornfeld geht und seine Jünger dabei die Ähren ausraufen. Dieses unerhörte Verhalten ruft augenblicklich die Pharisäer auf den Plan: „Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist?“ Und Jesus kontert mit einem jener zeitlosen Sätze, deren Schönheit auch für Nichtgläubige eindrücklich ist: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats willen.“

Wie ist es zu erklären, daß manche Regeln ihren Bruch provozieren, andere wiederum fanatisch eingehalten werden? An der Frage ihrer Sinnhaftigkeit, wie oft behauptet wird, kann es nicht liegen, denn das Verbot des Stehlens dürfte jedem vernünftigen Menschen einleuchten, ebenso wie die Tatsache, daß der Konsum illegaler Substanzen für die Gesundheit junger Menschen langfristig schädlicher ist als eine Infektion durch das neuartige Coronavirus.

Der Grund muß wohl eher im Umfeld des Menschen zu suchen sein, in der Frage, ob das Verbot zur Entstehung einer Verbotsmasse führt und somit den Nichtbefolger ächtet oder umgekehrt dem Übertreter Bewunderung zuteil werden läßt. Wenn dem so ist, dann ist der Umgang des Menschen mit Verboten seine Bankrotterklärung als freiheitliches Individuum.

Der Reiz des Verbotenen hat die Menschheit einst in den Abgrund gestürzt. Heute richten sich Menschen durch die unbarmherzige Kontrolle von Regeln gegenseitig selbst zugrunde. Jesus hat versucht, einen anderen Weg zu weisen. Dafür haben sie ihn ans Kreuz geschlagen.






Dr. Sebastian Moll, Jahrgang 1980, studierte in Deutschland, der Schweiz und England Evangelische Theologie. Heute ist der Publizist und Buchautor Studienleiter der THS-Akademie für pastorale Führungskräfte in Bingen am Rhein. Auf dem Forum schrieb er zuletzt über die Angst der Ideologen vor der Wirklichkeit („Seht, da ist der Mensch!“, JF 17/19).

Foto: „Adam und Eva“ (Franz von Stuck, um 1920–26): Der Reiz des Verbotenen hat die Menschheit schon einmal und grundsätzlich in den Abgrund gestürzt