© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Endlich sachliche Argumente
Die Lehren aus der Heinsberg-Studie für ganz Deutschland / 15 Prozent der Einwohner Sars-CoV-2 positiv
Hans E. Müller

Die sogenannte Heinsberg-Studie wurde in Gangelt, einer Kleinstadt mit 12.000-Einwohnern im Kreis Heinsberg (Regierungsbezirk Köln), vom 30. März bis 12. April durch ein Team der Universität Bonn unter Leitung des Virologen Hendrik Streeck durchgeführt. Das vorläufige Ergebnis über den ersten großen Covid-19-Ausbruch in Deutschland war unmittelbar danach veröffentlicht worden – und von Kollegen wie Medien als „unwissenschaftlich“, „methodisch fehlerhaft“, „intransparent“ oder „nicht aussagekräftig“ kritisiert worden. Zweifelsohne hatte die Studie methodische Fehler und war „mit heißer Nadel gestrickt“, wie Streeck selbst konzedierte.

Der Superspreader und die Karnevalssitzung

Doch dem Verriß lagen nicht nur sachliche Argumente zugrunde. So behauptete etwa die Statistikerin Katharina Schüller, die Studie hätte die Begriffe Rate und Quote verwechselt, weil eine „Rate (statt Quote) der akuten Infektionen“ angegeben wurde. Doch die Kritik fällt auf die Chefin der Münchner Firma Stat-Up selbst zurück, denn die Heinsberg-Studie gibt tatsächlich keine zeitlose Quote, sondern eine zeitlich definierte Rate wieder, exakt die Zeit vom 15. Februar, als ein Superspreader während der Karnevalssitzung viele Teilnehmer infiziert hatte, bis zum Ende der Studie am 12. April.

Nach Schüller sei „die Betrachtung zu einem festen Zeitpunkt vorgenommen worden und danach handelte es sich tatsächlich um eine Quote“. Doch sie irrt, denn nicht der „feste Zeitpunkt“ ist entscheidend, sondern der Bezug auf einen Zeitrahmen. Der Epidemiologe Gérard Krause vom Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung monierte, es hätte aus jeder Familie nur eine Person in die Statistik eingehen dürfen. Allerdings wäre dadurch die wichtigste Erkenntnis dieser Studie, von der Kreuzimmunität aller Coronaviren, unmöglich gewesen.

Das Streeck-Team hatte 1.000 Einwohner aus 400 Familien interviewt, untersucht und folgendes Ergebnis vorgestellt: 15 Prozent der Einwohner von Gangelt waren Sars-CoV-2 positiv, waren mehr oder weniger leicht oder schwer erkrankt und inzwischen immun, 7 waren daran gestorben. Auf Gangelt bezogen entspricht das einer Letalität von 0,37 Prozent. Andere Studien kommen zu ähnlichen Werten zwischen 0,1 und 0,5 Prozent.

Die übrigen 85 Prozent waren Sars-CoV-2 negativ. Teils waren sie mit dem Virus nicht in Berührung gekommen, aber zum Teil hatten sie auch in Familien mit einem Sars-CoV-2-positiven Familienmitglied zusammengelebt. Sie waren also ebenfalls immun und nicht durch das aktuelle Sars-CoV-2 infiziert worden, sondern durch eines der mindestens vier in Deutschland endemischen Coronaviren, die nur harmlose Erkältungen verursachen. Cem Özdemir hatte die gleiche Erfahrung gemacht: Der Ex-Grünen-Chef war selbst an Covid-19 erkrankt, aber seine Familie gesund geblieben.

Daraus leitet sich die Erkenntnis ab, daß eine vor Covid-19 schützende Kreuzimmunität durch verschiedene Coronaviren existiert. Sars-CoV-2 ist also keineswegs auf eine immunologisch naive Bevölkerung getroffen, wie das Christian Drosten (Chef des Instituts für Virologie an der Charité in Berlin) behauptet und Angela Merkel davon überzeugt hat, daß bis zum Erreichen einer Herdenimmunität mit 50 bis 60 Millionen Covid-19-Erkrankungen und vielen hunderttausend Covid-19-Toten zu rechnen sei. Tatsächlich sind keine 83 Millionen, sondern nur etwa 15 Prozent und entsprechend etwa zwölf Millionen gefährdet. Bezogen auf die 0,37-Prozent-Letalität ist daher auch „nur“ mit 40.000 bis 50.000 Toten zu rechnen. Das ist die Größenordnung einer schweren Influenza-Saison, doch hier hat noch nie jemand an einen Shutdown gedacht.

Die Studienergebnisse erschüttern damit die wissenschaftliche Grundlage der Corona-Politik und stellen den Shutdown ebenso in Frage wie alle Bemühungen um einen Impfstoff. Nun mögen sie nicht hundertprozentig auf ganz Deutschland übertragbar sein, aber an ihrer Grundaussage ist nicht zu zweifeln: Nur der kleine Teil älterer Menschen und Patienten mit Grundkrankheiten ist durch Covid-19 stärker gefährdet.

Ein Glücksfall für

die Epidemieforschung

Die weitere Frage, weshalb Deutschland bislang gut durch die Covid-19-Pandemie gekommen ist, in Italien, Spanien oder New York dagegen so viele Menschen gestorben sind, erklärt sich aus der positiven Korrelation zwischen Reproduktionsrate R und der Virulenz eines Erregers: Wenn viele von einem einzelnen Superspreader infiziert werden, dann korreliert das mit einem hohen R sowie hoher Virulenz und umgekehrt.

Diese Beziehung gilt für viele Infektionserreger. So war das Influenzavirus H1N1, der Erreger der Spanischen Grippe (JF 15/18), im Winter 1917/18 in Kansas entstanden und mit Albert Gitchell, dem Patient Null, nach Frankreich gelangt. Der Küchenunteroffizier verbreitete das Virus zunächst in seiner Kompanie. Doch schon innerhalb weniger Wochen waren beide Seiten der Westfront infiziert. Die Bedingungen des Stellungskrieges, aber noch mehr die überfüllten Lazarette nahe der spanischen Grenze verzehnfachten die Virulenz und Letalität von H1N1. Aus dem Gerücht, das Virus sei aus Spanien gekommen, ist der Name „Spanische Grippe“ entstanden. Weltweit hat sie 50 bis 100 Millionen Opfer gefordert.

Das HIV-1 war in Zentralafrika viele Jahrzehnte mit R-Zahlen um eins endemisch. Die Übertragungszyklen innerhalb der kleinen Familienclans dauerten Jahrzehnte, bis ein Virus von seinem Wirt auf den nächsten gelangen konnte. Um zu überleben, mußte die Virulenz entsprechend gering sein. Seit den 1930er Jahren gelangte HIV-1 durch Industrialisierung und Prostitution in die Städte. Von UN-Aufbauhelfern wurde es nach Haiti und in den 1970er Jahren von Homosexuellen in die USA verschleppt. Extrem häufige Geschlechtskontakte ließen hier hochvirulente Mutanten entstehen.

Ihre hohe Reproduktionszahl bedingte eine Virulenz, die in ein bis zwei Jahren zum Tod führte. Seit den 1980er Jahren ließen Safer-Sex-Praktiken die Übertragungszyklen wieder länger werden, die Reproduktionszahl und die Virulenz wurden geringer und die Überlebenszeit der Aids-Kranken stieg an. Heute beträgt sie, fast wie einst im Kongo, aber nur dank einer hoch effizienten Therapie wieder viele Jahrzehnte.

Erst im Vergleich mit diesen Pandemien wird klar, daß der Covid-19-Ausbruch in Gangelt für Deutschland ein ausgesprochener Glücksfall war. Der frühe Zeitpunkt der Epidemie, ausgelöst durch die Kappensitzung in einer Kleinstadt, machte ihn einerseits zu einem Modell für das ganze Land und andererseits durch gutes Management noch beherrschbar.






Prof. Dr. Dr. Hans E. Müller ist Arzt und Chemiker. Er arbeitete im Medizinaluntersuchungsamt Braunschweig und am Zoologischen und Vergleichend-Anatomischen Institut der Universität Bonn.

Heinsberg-Studie „Infection fatality rate of Sars-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event“:

 www.ukbonn.de