© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/20 / 15. Mai 2020

Vom Serien- zum Bücherjunkie
Komaglotzen: Das oft kritisch betrachtete „Binge Watching“ läßt sich durchaus konservativ gestalten
Gil Barkei

Binge Watching“, das stundenlange Durchschauen ganzer Serienstaffeln und Filmreihen am Stück, ist zu einem Phänomen der zunehmend digitalisierten Zeit geworden. Steht die Fortsetzung einer beliebten oder gleich eine völlig neue Serie auf einem Streamingportal an, stellen weltweit Hunderttausende die Erinnerungsfunktion beim Video-on-Demand-Dienst oder im Handykalender, um die Folgen gleich zum Veröffentlichungstermin notfalls die ganze Nacht lang „durchzusuchten“.

Für die einen bedeutet der Trend eine zukunftsweisende Freiheit, weil man das „Fernsehprogramm“ selbst gestalten kann, für Kritiker symbolisiert er ein flimmerndes Sinnbild der Moderne: ein antisportlicher wie antisozialer Filmmarathon, Serienjunkies mit dem Verlangen nach mehr Stoff. Und dieser kommt brachial im Überfluß. Fieberte man früher der Ausstrahlung der nächsten Serienfolge eine Woche entgegen, bieten Netflix & Co. heute die sofortige Überdosis. Die meisten Produktionen werden direkt alle auf einmal freigeschaltet.

Im Lichte der Flatscreens, Tablets und Smartphones hat sich allerdings ein Marathonverbrauch entwickelt, der den vermeintlich übertriebenen Konsum konservativer erscheinen läßt. „Comfort Binging“ beschreibt das bewußte mehrmalige Anschauen von ausgesuchten Lieblingsserien und -filmen ohne Termin- oder Aktualitätsstreß: alle fünf Staffeln „Narcos“, alle neun „Star Wars“-Abenteuer, alle 236 Episoden „Friends“. Der Start der „Simpsons“, das Ende bei „How I Met Your Mother“, die Musik bei „Games of Thrones“; manche gucken sich zum zehnten oder vielleicht sogar zum zwanzigsten Mal längst schon auswendig gelernte Sitcoms oder Filme erneut an. Die Momente vor dem Bildschirm erscheinen so als positiv besetzte Auszeit, um zu entspannen oder um schöne emotionale Erinnerungen wiederholt wachzurufen, die man mit einer bestimmten Folge verbindet. 

Dabei geht es mehr um die eigene Gefühlswelt als um Spannung und neuartige Action – Vertrautheit zum Wohlfühlen anstatt neue komplizierte Handlungen und Charaktere. 

Der eine denkt bei einer altbekannten Szene an seine erste Beziehung, ein anderer bei einem verinnerlichten Filmzitat an seine Studentenzeit und die Erlebnisse in der damaligen WG. Die Frankfurter Allgemeine nannte „Comfortbinger“ schon „Kulturkonservative“, die sich in einer „Art des Rückzugs“ gegenüber dem „schnelllebigen Konsum“ befänden und einen „Sinn fürs Häusliche, Gemütliche, ja, Spießige“ hätten.

Wortklauberei, mögen viele Kritiker wieder sagen, das ist doch letztlich das gleiche Komaglotzen, nur netter umschrieben. Aber im Schatten der dauerflackernden TV-Beleuchtung wird diese Weiterentwicklung des „Binge Watching“ längst auf Bücher, CDs, Platten und Fotoalben übertragen. Das kalte bläuliche FullHD-bis-8K-Pixellicht im Wohnzimmer wird durch den warmen gelblichen Glühbirnenschein der Lese- und Stehlampen ersetzt. 

Die erneut durchgelesenen Abenteuer der „Kinder von Bullerbü“ und damit die eigenen wiederbelebten Kindheitsabenteuer verdrängen die von populären TV-Serien wie „Gilmore Girls“ oder „Greys Anatomy“. Danach folgen vielleicht die Bände von J.R.R. Tolkien, die Lieblingsgedichte von Heine, Rilke und der Klassik oder eben die Schriften Ernst Jüngers oder Fontanes. 

Wohltuendes Aufrollen der eigenen Heimat

Das eigene Bücherregal oder das der Eltern bietet oft genug Stoff für einen komfortablen Schmökermarathon; und seien es alle Fälle der Kommissare Gereon Rath, Georges Dupin oder Guido Brunetti. Und warum nicht noch einmal alle Alben der Lieblingsband, diese eine ganz besondere Opernaufnahme oder die alten Drei-Fragezeichen-Kassetten durchhören; oder in den Schallplatten der Eltern und Großeltern stöbern, die früher auf jeder Geburtstagsfeier liefen? 

Die passenden Fotos dazu finden sich in den aufgereihten Ordnern, deren leichte Staubschicht förmlich danach schreit, sie mal wieder aufzuschlagen und zusammen mit dem Partner und den Kindern durchzublättern. „Bingen“, das Betrachten im Gelage („binge“) kann derart eine Form des Aufrollens und des sich Vergewisserns von Zuhause, Herkunft und Heimat sein. 

Und wer gar nicht auf die „Röhre“ verzichten möchte, der kann seine E-Books, Songs, Hörspiele und Fotos einfach auf dem Klapprechner oder dem Smart-TV durchklicken.