© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Kippunkt der AfD
Der Fall Kalbitz mündet in eine Richtungsentscheidung über die Zukunft der Partei
Dieter Stein

Mit der Entscheidung im Fall Andreas Kalbitz hat der Bundesvorstand der AfD vielleicht in letzter Minute noch einmal eine Notbremse gezogen. Der Rauswurf des neben Björn Höcke mächtigsten Exponenten des rechten „Flügel“-Netzwerkes löst in der Partei emotionale Reaktionen aus – war aber ein lange überfälliger Befreiungsschlag. Ein großes Ausrufezeichen, wenn die AfD die wachsende Gefahr, sich endgültig in ein politisches Ghetto zu manövrieren, noch einmal abwenden will.

Noch heute zehrt die AfD vom Ruf der Anfangszeit: Eine Gruppe respektabler Ökonomen, namhafter Publizisten und eine Zahl erfahrener Politiker legten den Grundstein für eine Partei, die innerhalb kürzester Zeit die erfolgreichste nichtlinke Neugründung seit 1949 werden sollte. 

Die AfD hatte das Momentum, artikulierte mitten in der Eurokrise eine klare Alternative entgegen der von Kanzlerin Merkel penetrant proklamierten Alternativlosigkeit. Und ihre Funktionäre und Mitglieder kamen aus der Mitte der Gesellschaft. Hochschullehrer, Unternehmer, Selbständige, Beamte – vorzeigbare Leute.

Ein entscheidender Punkt, warum die AfD so erfolgreich werden konnte, war nicht zuletzt, daß sie im Gegensatz zu unzähligen erfolglosen Splitterparteien eben nicht aus dem einschlägigen Rechtsaußenmilieu entstanden war. Nur deshalb entfaltete sie eine solche mobilisierende Kraft und überwand die nun einmal existierende Reserve gegen eine Partei „von rechts“. 

Die Gründer waren jedoch vorgewarnt, daß Personen mit politisch vorbelasteten Lebensläufen aus rechtsradikalen Organisationen Schlange stehen würden, das Projekt AfD zu entern. Die AfD installierte gegen diese Bemühungen wohlweislich als „Firewall“ eine Unvereinbarkeitsliste, die den Hauptansturm aus der einschlägigen Szene abwehrte. Dennoch kam es zu einer subkutanen Unterwanderung, in deren Zentrum der bald entstehende „Flügel“ und sich aus länger zurückreichenden Zusammenhängen kennende Netzwerke stehen sollten. 

Warum stürzte nun der brandenburgische Landes- und Fraktionschef? Er hat entgegen dem Parteimotto „Mut zur Wahrheit“ gehandelt und beim Eintritt 2013 schlicht gelogen. Er wußte von Anfang an, daß ihm seine Vergangenheit einmal um die Ohren fliegen würde. Deshalb verschwieg er sowohl anfangs seine – politisch tragbare – frühere Mitgliedschaft bei den Republikanern als auch seine offenbar inzwischen unzweifelhafte Mitgliedschaft in der 2009 vom Bundesinnenminister verbotenen rechtsextremen „Heimattreuen Deutschen Jugend“ (HDJ). Allein deshalb konnte die AfD nun seine Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung für nichtig erklären.

Kalbitz war kein unbedarfter Jüngling, sondern ein intelligenter, erwachsener Mann Mitte Dreißig, als er an Jugendlagern der HDJ teilnahm, von der er natürlich wußte, daß sie eine Vorfeldorganisation der rechtsextremen NPD war. In dieser Szene war Kalbitz in diversen Organisationen vielfältig aktiv. Er lieferte dem Verfassungsschutz quasi auf dem Silbertablett jene Anhaltspunkte, die jetzt die für die Partei und ihre Mitglieder existenzbedrohende Einordnung der AfD als Verdachtsfall erleichtern.

Politische Irrtümer kommen vor. Viele Menschen wandeln sich politisch. Es muß auch das Recht auf eine zweite Chance geben. Auf der Linken gilt dies als selbstverständlich. Es gibt auch CDU-Bürgermeister, die vor Jahrzehnten in der NPD waren. Nur sollte derjenige dann den Mut haben, sich zu dieser Vorgeschichte aufrichtig zu erklären. Er sollte in der Lage sein, sich von einem politischen Irrweg klar zu distanzieren oder diesen einzuordnen. Dazu war Kalbitz nicht bereit.

Es ist erstaunlich, daß ein Mann, der die Partei nachweislich mehrfach belogen und sich damit illoyal verhalten hat, von der Partei seinerseits Loyalität erwartet, wenn Dinge ans Licht kommen, die ihn überführen. Hier zeigt sich ein wiederkehrendes Muster moralischer Asymmetrie. „Radikale“ in der AfD – die die Partei in politisch existenzbedrohende Lagen steuern – fordern Solidarität und Loyalität, die sie selbst nicht zu üben bereit sind.

Die systematische Ächtungsstrategie, die sowohl von den übrigen etablierten Parteien als auch vielen Medien gegen die AfD verfolgt wird, hat in den vergangenen Jahren zu einem stetigen Aderlaß an gemäßigten Funktionären und Mitgliedern geführt. Politisch existenzbedrohend wurde dieser Trend zuletzt zusätzlich durch die sich zuspitzende Gefahr der Beobachtung und Einordnung der AfD als rechtsextremer Verdachtsfall.

Natürlich wird der Verfassungsschutz schon immer politisch instrumentalisiert und mißbraucht, um Konkurrenz im Parteienwettbewerb zu diskriminieren. Dies kann man nicht scharf genug kritisieren und die AfD hat die Pflicht, sich offensiv dagegen zu wenden. Auf der anderen Seite handelt fahrlässig, wer mutwillig und sogar systematisch in der AfD und in ihrem Umfeld darauf hinarbeitet und Gründe liefert, um die Partei als rechtsextreme Organisation abstempeln zu können.

Wie geht es weiter? Die Mehrheit des AfD-Bundesvorstandes hat die Partei mit der schon vorangegangenen erzwungenen Auflösung des „Flügels“ und dem Ausschluß von Kalbitz auf ein Gleis gesetzt, das langfristig zum Erfolg führen kann. Und politisch erfolgreich wird die AfD nur werden, wenn sie bei Wahlen im Westen zulegt. Eine radikalisierte, vom Verfassungsschutz beobachtete „Lega Ost“ wird keine Zukunft haben.

Die Themen liegen für die AfD auf der Straße: Kampf für Freiheitsrechte, direkte Demokratie, Verteidigung des demokratischen Nationalstaates, Kontrolle der Grenzen gegen illegale Migration, Stopp der Schuldenvergemeinschaftung im Rahmen der EU. Eine geschlossene, seriöse, glaubwürdige politische Kraft hat hier ein weites Feld.