© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Liebe Aale
Ob Palmer oder Kemmerich: Querschüsse sind in Corona-Zeiten nicht beliebt
Jörg Kürschner

Obwohl die Meinungsfreiheit anders als andere gewichtige Grundrechte durch die Corona-Krise nicht eingeschränkt worden ist, steht sie im Mittelpunkt einer zunehmend unduldsam geführten öffentlichen Diskussion. Es sind nicht nur die Demonstranten gegen die Eindämmungsverordnung, die von Politikern mit unangemessenen Worten („Systemverächter“) ausgegrenzt werden. Auch innerhalb der Parteien weht Kritikern der Bund-Ländermaßnahmen gegen die Pandemie ein heftiger Wind ins Gesicht. Das Gefühl drängt sich auf, das Sarrazin-Virus habe die Parteipolitik kontaminiert, Abweichler gehören nicht länger dazu.

Der Reihe nach: Seit vielen Jahren versucht die SPD ihr langjähriges (seit 1973) Mitglied Thilo Sarrazin auszuschließen. Derzeit läuft ein Parteiordnungsverfahren, das dritte seit 2010.  Sarrazin habe „durch sein Verhalten und seine Äußerungen erheblich, beharrlich und wiederholt gegen die Grundsätze der Partei verstoßen und der Partei dadurch schweren Schaden zugefügt“. Der Bestseller-Autor spricht von einer kulturellen Prägung der Muslime „im Sinne von Passivität“ und „geringem Bildungseifer“. Man wird es Sozialdemokraten, die sich den Grundforderungen der Französischen Revolution, „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verpflichtet fühlen, nicht verargen, daß sie diese zutreffende Analyse ihres „Parteifreundes“ als Zumutung empfinden. 

Deutlich niedrigschwelliger fallen die Provokationen in den Oppositionsparteien FDP und Grüne aus, doch liegen dort die Nerven nach den vielen Corona-Wochen offenbar blank. Führende FDP-Politiker hadern mit ihrem Mitglied Thomas Kemmerich. Bereits seit drei Monaten. Anfang Februar hatte es im Erfurter Landtag das „Fiasko von Thüringen“ gegeben, so Bundesparteichef Christian Lindner. Spitzenkandidat Kemmerich hatte im Freistaat äußerst knapp den Einzug der FDP in den Landtag geschafft, das einzige ostdeutsche Landesparlament. 

So weit, so gut. Doch dann ließ er sich mit den Stimmen der AfD zum Ministerpräsidenten wählen, um den Linken Bodo Ramelow dauerhaft abzulösen. Das Unternehmen scheiterte bekanntlich, der Vorgänger Kemmerichs wurde rasch sein Nachfolger. Die Empörung war der FDP sicher, Lindner übte sich im Canossa-Gang. Der war – durch die Corona-Krise – in den Hintergrund gerückt, da wurde Kemmerich zum zweiten Mal verhaltensauffällig. Zumindest aus Sicht der Parteiführung in Berlin. 

Lindner will Palmer nicht in der FDP sehen 

In Gera hatte der thüringische Landeschef zusammen mit AfD-Politikern wie Vize-Bundessprecher Stephan Brandner gegen die Corona-Auflagen demonstriert; ohne Mund-Nasen-Schutz und Abstand. Aufgerufen zu der Demonstration hatte ein parteiloser Vertreter des CDU-Wirtschaftsrats, der den FDP-Mann auf dem Podium als „einzig aktuellen legitimen Ministerpräsidenten“ begrüßt hatte. Widerspruch von Kemmerich? Keiner.

Wohl aber in der Bundesvorstandssitzung wenige Tage später, die zum Tribunal über den unbotmäßigen Unternehmer geriet, der nicht abhängig ist von Landtagsdiäten. Was sich in seinem Auftreten wie selbstverständlich mitteilt, das keinesfalls überheblich, wohl aber selbstsicher ausfällt. Vor der Sitzung war ihm bereits aus der eher linksliberal orientierten Bundestagsfraktion der Parteiaustritt nahegelegt worden, insbesondere die Lindner-Vertraute Marie-Agnes Strack-Zimmermann hatte ihn in geiferndem Ton in die Nähe von Verfassungsfeinden gerückt. Parlamentsgeschäftsführer Marco Buschmann, in der Fraktionshierarchie direkt hinter Lindner, sprach von einem „schweren Schaden“. Er habe es politischen Gegnern ermöglicht, gegen die FDP zu hetzen, bedauerte Kemmerich. Es mache ihn aber persönlich betroffen, daß er nun öffentlich der Verfassungsfeindlichkeit bezichtigt werde. Er werde überlegen, welche Rolle er bei den Liberalen künftig noch einnehmen könne. Gesagt getan. Kurz darauf ließ der Thüringer sein Bundesvorstandsamt bis zum Jahresende ruhen, als Vorsitzender der FDP-Mittelstandsvereinigung trat er zurück. Kemmerich will sich jetzt auf Thüringen konzentrieren, „ohne daß es dazu unerbetener Ratschläge von außen bedarf“. Herumschubsen lasse ich mich nicht, sollte das wohl heißen.

Was auch für Boris Palmer gilt, den Grünen-Oberbürgermeister von Tübingen. In einem Interview kommentierte er die Anti-Corona-Maßnahmen auf seine Weise: „Ich sag’s ihnen mal ganz brutal. Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären“. Auch wenn er sich später für den „dummen Satz“ entschuldigte und sich falsch dargestellt fühlte, die Parteispitze erklärte Palmer zur Unperson. Die Forderung nach einem Parteiausschluß ließ nicht lange auf sich warten, die Unterstützung der Grünen für eine erneute Kandidatur 2022 wurde ihm versagt.

Da witterte Baden-Württembergs FDP-Landeschef Michael Theurer die Chance auf ein medienwirksames Echo. Und machte dem „streitbaren und klugen Kopf“ ein Aufnahmeangebot. Was dieser erwartungsgemäß ausschlug und Theurers Fraktionschef Lindner erzürnte. „Wir brauchen ihn auch nicht“, beschied er unwirsch das Angebot seines Vizes. Theurer hatte den Mund deutlich zu voll genommen. „Wir sind eine Heimat für kritische Köpfe. Wir halten das aus, wir kämpfen für Meinungsfreiheit“.