© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Es eskaliert
Vertuschung vorgeworfen: Der AfD-Bundesvorstand erkennt Andreas Kalbitz die Parteimitgliedschaft ab / Warnung vor einer „Zerreißprobe“
Christian Vollradt

Gerade einmal zwei Stunden hatte der AfD-Bundesvorstand am Freitag vergangener Woche in der Berliner Parteizentrale getagt, da ließ er die Bombe platzen: Andreas Kalbitz ist raus. Der Brandenburger Landes- und Fraktionschef sowie Beisitzer im Bundesvorstand gehört nicht länger der Alternative für Deutschland an. „Sie haben’s echt getan“, so der erstaunte Ausruf eines Journalisten, als die ersten Medienvertreter das Abstimmungsergebnis mitgeteilt bekommen.

Mit sieben Für- bei fünf Gegenstimmen sowie einer Enthaltung hob die AfD-Spitze die Mitgliedschaft Kalbitz’ auf. Der Grund: Er hatte, so der Vorwurf, bei seinem Eintritt in die Partei im Jahr 2013 seine vorherige Mitgliedschaft bei der 2009 vom Bundesinnenministerium verbotenen „Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ)“ verschwiegen und die in der Partei „Die Republikaner“ nicht angegeben.

Erst Mitte April hatten die Vorstände ihren Kollegen Kalbitz aufgefordert, eine Liste der politischen Organisationen und Vereine vorzulegen, in denen er sich in der Vergangenheit engagiert habe und sich zu diesen Mitgliedschaften und Kontakten zu erklären. Insbesondere sollte er glaubhaft machen, daß er nicht Mitglied der HDJ gewesen sei, unter anderem, indem er mit allen möglichen Mitteln gegen solche Behauptungen vorgehe. Dieser Aufforderung war der Brandenburger einige Tage vor der Sitzung nachgekommen. In seiner fünfseitigen Stellungnahme räumte Kalbitz unter anderem ein, daß sein Name auf einer „Interessenten- oder Kontaktliste“ der HDJ aufgeführt worden sein könnte. Dies sei „durchaus möglich und wahrscheinlich“. Mitte März hatte Kalbitz noch erklärt, die „durch den Verfassungsschutz über den Spiegel aufgestellte Behauptung der Mitgliedschaft einer ‘Familie Andreas Kalbitz’ in der 2009 verbotenen Heimattreuen Deutschen Jugend e.V.“ sei „schlicht falsch“.

„Gefährliches und            falsches Ergebnis“

Am Freitag stand dann als Punkt 2.2 die „Besprechung/Beschlußfassung zur Stellungnahme von Andreas Kalbitz“ auf der Tagesordnung des Bundesvorstands. Nach dem Willen des Vorsitzenden Tino Chrupalla sowie der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Alice Weidel sollte dann der Antrag „Beschlußfassung juristische Prüfung“ dieser Stellungnahme erfolgen. Doch auf Initiative von Jörg Meuthen wurde der weitergehende Antrag „über die Aufhebung der Parteimitgliedschaft“ Kalbitz’ zuvor behandelt. Mit dessen Annahme hatte sich der andere Antrag erledigt. 

Unmittelbar danach wandte sich der Ehrenvorsitzende der Partei, Alexander Gauland, mit deutlicher Kritik am Abstimmungsergebnis an die Öffentlichkeit. Der Fraktionsvorsitzende im Bundestag sprach von einem „gefährlichen und falschen Ergebnis“. Wie seine Kollegin Alice Weidel sieht er den Ausschluß juristisch auf wackeligen Beinen. So liege etwa dem Parteivorstand ein Eintrittsformular, „auf dem Kalbitz etwas nicht angegeben haben soll, gar nicht vor“, sagte Gauland. Auch lasse sich eine HDJ-Mitgliedschaft nicht nachweisen. 

Im Interview mit dem ZDF sagte Gauland am Sonntag abend, er habe den Beschluß gegen Kalbitz „nicht für möglich gehalten“. Nach Informationen der JUNGEN FREIHEIT hatte der Ehrenvorsitzende noch am Tag vor der Vorstandssitzung versucht, Meuthen in einem langen Gespräch umzustimmen, daß der den entsprechenden Antrag nicht auf die Tagesordnung setzen solle. Vergeblich. Daraufhin rechneten viele in der AfD bereits vorher mit dem Ergebnis, das dann am Freitag nachmittag feststand. Bereits vormittags soll es in Kreisen des mittlerweile aufgelösten Flügels geheißen haben: „Heute fliegt Andreas Kalbitz aus der Partei.“ Auch der soll, so berichten Insider, im Vorfeld nicht sehr optimistisch in die Sitzung gegangen sein. 

Gaulands Kritik entzündete sich an zweierlei: Außer der juristischen Unsicherheit hält er ihn für politisch unklug. Dabei treibt den Elder statesman der AfD in erster Linie die Sorge vor einer erneuten Zerreißprobe in der Partei um. „Es geht ihm nicht um Kalbitz“, betont man im Umfeld Gaulands. Über dessen biographische „Leichen im Keller“ sei sich der Potsdamer durchaus bewußt. Er befürchte jedoch einen schweren Schaden, insbesondere wenn der Beschluß einer gerichtlichen Prüfung nicht standhalte. 

Kalbitz selbst wandte sich am Samstag in einem Aufruf an die AfD-Mitglieder. Mit Bedauern habe er die Entscheidung „von Teilen des Bundesvorstandes zur Annullierung meiner Mitgliedschaft nach sieben Jahren im Einsatz für unsere AfD hinnehmen“ müssen. Er sparte dabei nicht mit Vorwürfen in Richtung der Mehrheit im Vorstand. Die habe „mit fadenscheinigen und juristisch wackeligen Gründen das Geschäft des politischen Gegners“ betrieben. „Das letzte juristische Wort in der Sache“ sei noch nicht gesprochen. Kalbitz plant offenbar, sowohl vor einem ordentlichen Gericht als auch über die innerparteiliche Schiedsgerichtsbarkeit gegen seinen Rauswurf vorzugehen. Er forderte außerdem seine Anhänger auf: „Bitte bleibt der AfD treu!“ Geschlossenheit sei das Gebot der Stunde. 

Unterdessen war zwar bereits ab Freitag eine gewisse Unruhe innerhalb der AfD und vor allem in innerparteilichen Chat-Gruppen zu vernehmen; von einer beginnenden Austrittswelle war indes nichts zu spüren. Kalbitz’ wichtigster Mitstreiter an der Spitze des nun auf Beschluß des Bundesvorstands aufgelösten „Flügels“, Björn Höcke, sagte, er werde „die Spaltung und Zerstörung unserer Partei“ nicht zulassen. „Wer die Argumente von Parteigegnern aufgreift und sie gegen Parteifreunde wendet, der begeht Verrat an der Partei.“

Wesentliche Punkte des  Vorlebens verschwiegen

Am Montag entschied die Landtagsfraktion in Potsdam, ihre Geschäftsordnung insofern zu ändern, daß Kalbitz auch als Nicht-Parteimitglied in der AfD-Fraktion bleiben kann. Dafür stimmten auf einer Sondersitzung 18 von 21 Mitgliedern, zwei waren dagegen, ein Abgeordneter enthielt sich. Sein Amt als Fraktionschef lasse er bis zur rechtlichen Klärung ruhen, erläuterte Kalbitz nach der Sitzung. Kommissarisch übernimmt es der Parlamentarische Geschäftsführer Dennis Hohloch. 

Während viele Kalbitz-Unterstützer Parteichef Meuthen oder seiner Stellvertreterin Beatrix von Storch vorwerfen, sie strebten „eine andere Partei“ an, betonte der AfD-Europaabgeordnete, es sei in dem Fall nicht um inhaltliche politische Positionen, sondern um die rechtliche Frage gegangen. Auch sein Bundesvorstandskollege Alexander Wolf verteidigte das Vorgehen der Mehrheit des Gremiums gegen Kritik: „Die Entscheidung ist richtig, weil Andreas Kalbitz wesentliche Punkte seines politischen Vorlebens verschwiegen hat – und sie ist wichtig, weil sie zeigt, daß der Bundesvorstand bei einem Andreas Kalbitz genauso durchgreift, wie er es in einem anderen Fall getan hätte“, sagte Wolf der jungen freiheit. Einer möglichen juristischen Auseinandersetzung sieht der Hamburger Co-Fraktionsvorsitzende gelassen entgegen. „Wir haben die Entscheidung rechtlich eingehend geprüft, sonst hätten wir sie nicht so gefällt, wie wir sie gefällt haben.“ Wolf betonte, der Bundesvorstand nehme „die Satzung ernst und die von der Partei beschlossenen roten Linien.“ 

Die Mehrheit im Bundesvorstand berief sich dabei – analog zum „Fall Dennis Augustin“ in Mecklenburg-Vorpommern (JF 29/19) – auf die im fraglichen Zeitraum (März 2013) geltende Satzung der AfD. Dort heißt es: „Personen, die Mitglied einer Organisation sind, welche durch deutsche Sicherheitsorgane als extremistisch eingestuft wird oder die Mitglied einer Organisation waren, welche zum Zeitpunkt der Mitgliedschaft durch deutsche Sicherheitsorgane als extremistisch eingestuft wurde, ohne daß diese Einschätzung rechtskräftig von den Gerichten aufgehoben ist, können nur Mitglied der Partei werden, wenn sie darüber im Aufnahmeantrag Auskunft geben und der Bundesvorstand sich nach Einzelfallprüfung für die Aufnahme entschieden hat.“ Verschweige ein Mitglied bei seiner Aufnahme in die Partei eine laufende oder ehemalige Mitgliedschaft in einer „als extremistisch eingestuften Organisation oder leugnet diese, kann der Bundesvorstand die Mitgliedschaft mit sofortiger Wirkung aufheben“.

2013 berief sich die AfD noch direkt auf die Verfassungsschutzberichte. Auf der später eingeführten Unvereinbarkeitsliste steht die HDJ, die Republikaner tun es jedoch nicht. Aber Kalbitz hätte wegen der damals als Maßstab angelegten Verfassungsschutzberichte seine dortige Mitgliedschaft angeben müssen. Denn das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg, das eine Beobachtung und Erwähnung der Republikaner durch den Verfassungschutz untersagte, bezog sich nur auf die Partei in Berlin beziehungsweise Brandenburg, nicht aber auf ihren Verband in Bayern, dem Kalbitz Ende 1993/Anfang 1994 beigetreten war. Auch daß sein Antragsformular nicht auffindbar sei, hält man bei der Mehrheit des Bundesvorstands für nicht relevant. Es gebe Zeugen, die das Fehlen entsprechender Angaben bestätigen könnten. Bereits vor längerer Zeit hatte der Brandenburger Bundestagsabgeordnete Norbert Kleinwächter der JF gegenüber bekräftigt, daß Kalbitz noch 2014 eine frühere Mitgliedschaft bei den Republikanern in seiner Anmeldung als Kandidat für die Brandenburgische Kommunalwahl nicht angegeben habe. Kleinwächter war seinerzeit als Vorsitzender des AfD-Kreiverbandes Dahme-Spreewald dafür zuständig. Tatsächlich steht auf Kalbitz’ Bewerbungsprofil, das der JF vorliegt, unter Punkt 7a („frühere Parteimitgliedschaft“) lediglich „Junge Union/CSU“. 

Der aus der AfD ausgetretene frühere Landtagsabgeordnete Steffen Königer sagte dem Nordkurier, alle Neumitglieder der Partei hätten damals in einem Online-Formular ankreuzen müssen, ob sie Mitglied in einer vom Bundesamt für Verfassungsschutz beobachteten Organisation waren. „Wenn Kalbitz Ja angekreuzt hätte, wäre er nicht berücksichtigt worden“, meinte Königer.

„Mit militanten              Neonazis unvereinbar“

Für die stellvertretende Parteivorsitzende Beatrix von Storch steht fest, Andreas Kalbitz habe den Bundesvorstand und die gesamte Partei auch über seine Beziehung zur HDJ getäuscht. „Erst erklärte er, er habe an HDJ-Lagern nicht teilgenommen, erst auf Vorlage der Bild- und Video-Beweise hin, daß er sich nicht erinnern könne und daß er sich das nur ‘einmal anschauen wollte’, dann, daß er auf keiner Mitgliederliste stehe, und nunmehr räumte er ein, daß er ‘wahrscheinlich’ doch auf einer Liste der HDJ stehe, diese sei aber keine Mitgliederliste“, meinte die Bundestagsabgeordnete gegenüber der JF. „Seine Antwort auf die Aufforderung zur Stellungnahme des Bundesvorstandes zeigte eindeutig, daß er auch weiterhin eine Verschleierungstaktik betrieb, nur einräumte, was bereits nachgewiesen war und offensichtlich beabsichtigte, den Beschluß des Bundesvorstandes immer weiter zu verschleppen“, empörte sich von Storch. Es gehe bei der Entscheidung vom Freitag nur darum, „daß Andreas Kalbitz die AfD über seine Beziehung zur HDJ getäuscht hat und der Sachstand dafür spricht, daß er Mitglied in der HDJ war.“ Die Mitgliedschaft in einer „militanten Neonaziorganisation“ sei mit der Mitgliedschaft in der AfD nicht vereinbar. Das gelte „für einfache Mitglieder ebenso wie für Mitglieder des Bundesvorstandes“, betonte sie gegenüber der JF. Juristen verwiesen zudem auf den Umstand, daß im Vorfeld einer Aufnahme in eine Partei das allgemeine Zivil- und nicht das Parteienrecht gelte. Der Vorstand sei daher frei, eine Aufnahme wegen Täuschung anzufechten oder mit sofortiger Wirkung zu beenden. 

Bundesvorstandsmitglied Wolf räumte ein: „Sicherlich ist dies eine Belastungsprobe für die Partei, aber die AfD wird sich auch hier zusammenraufen.“ Diesen Optimismus teilen andere Parteimitglieder indes nicht; auch solche nicht, die die Entscheidung vom Freitag grundsätzlich als wichtiges Signal an bürgerlich-konservative Wählerschichten werten.