© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Das Virus der Freiheit ist ansteckend
Kundgebungen gegen Corona-Beschränkungen mit großem Zulauf: Normalos, Impfgegner und Schrille in Stuttgart und Berlin / Schockierender Fall von Gewalt
Michael Paulwitz / Ch. Dorn / Martina Meckelein / Hermann Rössler

Zur bundesweit größten Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen waren am vergangenen Samstag in Stuttgart wieder Tausende auf die Festwiese, den Cannstatter Wasen, gekommen. Die Stadt hatte zuvor noch rigidere Auflagen verhängt: Nur noch fünftausend Demonstranten statt der zehntausend vom vergangenen Wochenende oder gar der 500.000 vom Veranstalter angemeldeten sollten auf den Wasen gelassen werden. Dafür mußten 500 maskierte Ordner gestellt werden; der vorgeschriebene Mindestabstand wurde auf 2,5 Meter heraufgesetzt und von Polizeibeamten, die das Gelände weiträumig abgeriegelt hatten, mitunter mit Zollstöcken kontrolliert.

Für Widerspenstige, die in der U-Bahn ohne die vorgeschriebene Gesichtsmaske angetroffen wurden, wurde das Bußgeld für diesen Anlaß auf 300 Euro verzehnfacht. 60 Personen wurden erwischt und sollen blechen. Schon eine Dreiviertelstunde nach Kundgebungsbeginn war das Quorum von 5.000 Teilnehmern erreicht, den weiterhin eintreffenden Scharen wurde ein Alternativ-Versammlungsort zugewiesen.

Dann ermittelt die Kripo wegen versuchter Tötung

Das buntgewürfelte Publikum machte gute Miene und blieb folgsam: Biker und Sonnenbader, Junge und Alte, Familien mit Picknickdecken, eine Gymnasiastin, die endlich wieder zur Schule will, Impfgegner und Erweckungschristen, mächtig schwäbelnde Einheimische und Migranten. Von rechtsextremer Unterwanderung, wie sie Verfassungsschützer und der CDU-Innenminister Thomas Strobl an die Wand malen, keine findbare Spur.

Auf dem weitläufigen Festgelände wehen alle möglichen Fahnen, türkische, EU- und Nationalflaggen aller Völker, sogar ein paar schwarzrotgoldene. Von der „Reichsfahne“, die ein auftretender lokaler Musiker entdeckt hatte, distanziert der sich umgehend; man sei froh, daß die Befürchtung, die „Falschen“ könnten kommen, nicht eingetreten sei. Man wolle nur „demonstrieren in der Sonne und Spaß haben“, heizt der Musiker die Menge an.

Da jubeln die Demo-Gäste, von denen viele den Eindruck erwecken, sie seien vor allem hier, weil nach acht Wochen und all den ausgefallenen Konzerten und Frühlingsfesten überhaupt mal wieder etwas los ist. Das buntgemischte Publikum erinnert an die Anfangszeit der „Stuttgart 21“-Proteste, mit denen die schwäbische Metropole schon mal Schlagzeilen gemacht hatte; da und dort sieht man bereits dieselben Sektierertypen wie in der Spätphase der Demos gegen den Bahnhofsumbau, die vor einem Jahrzehnt die Grünen in die Landesregierung gebracht hatten.

Die Teilnehmer, die mit einer Botschaft unterwegs sind, eint die Grundstimmung, man werde von den Mächtigen da oben mit „unvorstellbarem Blödsinn“ schikaniert und könne denen nichts mehr glauben. Tafeln und Transparente drehen sich um die zentrale Forderung der Veranstalter-Initiative mit dem Namen „Querdenken 711“ – die Zahl steht für die Stuttgarter Telefonvorwahl: Aufhebung der Einschränkungen durch die Corona-Verordnungen. „Freiheitsvirus“ steht auf selbstgemalten Schildern, „Maulkorbpflicht, Ende sofort“, „Für Demokratie, gegen Zwänge“, wieder andere fordern „vielfältige Berichterstattung“ oder berufen sich auf den Widerstandsparagraphen im Grundgesetz.

Extremisten, die Politik, Medien und Verfassungsschutz bei den Corona-Demos allenthalben am Werk sehen, gibt es auf der Kundgebung natürlich auch; aber die kommen offenkundig vor allem aus der linksradikalen Ecke.

Mutmaßlich linksextreme Täter hatten in der Nacht zuvor drei Lastwagen angezündet, die die Veranstaltungstechnik transportieren sollten. Und dann das Krasse: Schwere Gewalttaten bis hin zum Mordversuch geschehen am Rande der Kundgebung. Gegen 14 Uhr greift eine Gruppe Vermummter andere Teilnehmer auf dem Weg zur Kundgebung an, traktiert sie mit Tritten, Schlägen und Reizgas. Die Attacke mit einer Schreckschußpistole bestätigt der JF die Polizei, die Waffe wird später in Tatortnähe von den Beamten gefunden. „Von den drei Opfern liegt ein Mann schwer verletzt in der Klinik. Er hat Kopfverletzungen“, so Polizeihauptkommissar Stephan Widmann vom Polizeipräsidium Stuttgart gegenüber der JF. Zwei Opfer werden ambulant behandelt. Die Waffe soll nach JF-Informationen einer der Angreifer gegen den Kopf des Opfers gehalten und abgedrückt haben. „Wir ermitteln wegen des Verdachts des versuchten Tötungsdeliktes“, so Hauptkommissar Widmann. Die Polizei hat eine Ermittlungsgruppe eingerichtet, an der Staatsschutz und Kriminalpolizei beteiligt sind.

Wer nach „Verschwörungstheoretikern“ Ausschau hält, stößt allenfalls auf Impfgegner aller Schattierungen, von der ergrauten Aktivistin in parolenbedeckter grelloranger Warnweste bis zu den beiden Südländerinnen, die mit „Gib Gates keine Chance“-Aufklebern auf dem Shirt auf und ab flanieren.

Auf der Bühne geht es ähnlich bunt zu wie im Publikum. Eine „Seelenforscherin“ rezitiert eine schwülstige „Ode an meine Stadt“, zwei Erzieherinnen tragen einen Text „für alle Kinder“ vor, zwischendurch tritt ein „Mann im roten Shirt“ auf, dessen Spezialität das Trommeln der indianischen Mütter ist, und der pensionierte Arzt Wolfgang Wodarg, SPD-Mitglied und früher Warner vor der „Corona-Panik“, steuert ein Video bei. Der zwischenzeitlich angekündigte Ken Jebsen stand dann doch nicht auf dem Programm.

„Solche Angst vorm Tod, daß wir das Leben fürchten“

Politischer wird es erst mit dem aus Serbien stammenden Unternehmer Milorad Krsti?, der die Grünen-Landesregierung an ihre eigene Protestvergangenheit erinnert, eine Lanze für die bürgerliche Eigenverantwortung bricht und den Politikern zuruft: „Wir, die Steuerzahler, bezahlen Sie, damit Sie uns gut regieren und nicht behindern.“ Er sorge sich, daß auch seine zweite Heimat Deutschland aufgespalten werden könne. „Ich verehre die Deutschen und das deutsche Volk“ – da wird der Beifall, leicht irritiert, verhaltener.

Szenenwechsel: Berlin-Alexanderplatz. „Wir werden hier als rassistische Querfrontler bezeichnet“, sagt Demonstrant Sebastian Schmitt den JF-Reportern. Mit einer Künstlergruppe steht er genau gegenüber der Antifa. In sein Mikrofon spricht er: „Es ist vollkommen okay, in einem demokratischen und pluralistischen Land eine öffentliche Debatte zu führen, um dann differenziert zu besprechen, welche Maßnahmen an welcher Stelle noch Sinn machen oder vielleicht weggeschaltet werden müssen, um eine Gesellschaft wieder funktionieren zu lassen.“

Etwas weiter weg auf dem Berliner Rosa-Luxemburg-Platz. Ein junger Mann empört sich: „Merkel und Co. können fünf Jahre in den Bau gehen!“ Hier hat der Verein „Kommunikationsstelle Demokratischer Widerstand“ (DW) zum Protest gegen die Corona-Verordnungen aufgerufen. Schon am frühen Samstag nachmittag ist der Platz abgesperrt, um zu verhindern, daß die erlaubte Teilnehmerzahl von 50 Personen überschritten wird. Der „Mundschutz-Zwang“ sei „Körperverletzung“, sagt der Mann. Aufgeregt, aber selbstsicher erklärt er der JF, daß er ein „normaler Arbeiter“ sei. Einer politischen Richtung gehörten er und seine Freunde nicht an. „Wir sind Menschen“, sagt er stolz. Die Maßnahmen aufgrund der Pandemie hält er für Humbug. „Medizinisch ist das totaler Quatsch. Viren sind ein natürlicher Bestandteil unseres Körpers.“ Um gesund zu sein, brauche man vor allem „Vitamin D und Sozialisierung“. Als sich einer von der Gruppe verabschiedet, umarmen sich die Kumpanen, ganz ohne Corona-Angst.

Rund um den Platz und in Nebenstraßen tummeln sich Demonstranten neben Flaneuren und Schaulustigen. Die Polizei versucht, nach Möglichkeit für die Einhaltung der Mindestabstände von 1,5 Metern zu sorgen. Eine diskussionsfreudige Gruppe Mittzwanziger zieht die Straße entlang. Die jungen Leute tragen blaue, gelbe und orangefarbene T-Shirts, auf denen Sprüche wie „Der Glaube versetzt Viren“ oder „Wir haben solche Angst vorm Tod, daß wir das Leben fürchten“ zu lesen sind. Dem Anschein nach sind Schwarzafrikaner, Inder und Mitteleuropäer dabei. Ein paar Meter weiter stehen drei Menschen, die sich durch die Parole „Leave no one behind“ als Linke zu erkennen geben. Etwas unschlüssig sehen sie dem Schauspiel zu. Die „Nazi-Aluhüte“ haben sie sich wohl anders vorgestellt.

Am nahe gelegenen Schendelpark positionieren sich dagegen Linksradikale unter „Antifa“-Bannern. Die Demonstration am Luxemburg-Platz sei „rechtsoffen“, so der Vorwurf, den eine Sprecherin der Autonomen durch ein Mikrofon bellt. Unpolitische Menschen würden von Rechten instrumentalisiert. Auf einem Plakat steht: „Weg mit AfD, KenFM, Compact und allen Nazis“.