© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Alles wagen, alles gewinnen
Porträt einer lebenden Filmlegende: Der Schauspieler und Regisseur Clint Eastwood wird neunzig
Dietmar Mehrens

Da muß was abgefärbt haben. So oft hatte er in seinen Filmen den Kopf in der Schlinge – buchstäblich oder im übertragenen Sinn –, daß es schwerfällt, daran zu glauben, irgendwann könnte er ihn mal nicht in letzter Sekunde wieder herausziehen. Er scheint unsterblich. Am 31. Mai wird Clint Eastwood neunzig. Als man ihn das letzte Mal fragte, ob’s das jetzt war, sagte er: „Ich liebe meine Arbeit.“ Im Finale furioso von „Gran Torino“, dem packenden Ethnokrimi von 2008, in dem mancher ein Selbstporträt des Hauptdarstellers und Regisseurs sehen möchte, war es mal wieder soweit: Er geht da raus, einer Übermacht von Banditen entgegen, zieht und ... 

Daß ihm wer an den Kragen will, kennt man. Aus „Zwei glorreiche Halunken“, dem Geniestreich über Galgenstricke und Galgenvögel, Höhe- und Schlußpunkt einer Reihe von drei Italowestern rund um das Thema Dollar, mit denen der Italiener Sergio Leone das Genre der Pferdeoper in eine neue Ära überführte. Oder aus „Hängt ihn höher“ (1968), den Ted Post in den USA drehte und damit das durch Leone entführte Genre reimportierte in sein Mutterland. 

Der Erfolg, den Papa Leone ihm bescherte, hatte auf sich warten lassen. In „Ambush at Cimarron Pass“ (1958) sah man den lässigen Blonden aus der Dollar-Trilogie erstmals in einer größeren Rolle – als Cowboy. Ein Jahr später startete die langlebige Westernserie „Rawhide“ (Tausend Meilen Staub), in der er es auf mehr Auftritte brachte als Adam Cartwright beim Wettbewerber „Bonanza“. Dann kam Leone. Dann kam der Ruhm.

Der Schauspieler war aber klug genug, sich nicht auf einen Typus festlegen zu lassen. In „Agenten sterben einsam“ betrat er 1968 neues Kampfgebiet: eine Alpenfestung bei Salzburg, in der ein US-General aus den Klauen der SS befreit werden muß. Mit „Coogans großer Bluff“ begann im selben Jahr die fruchtbare Zusammenarbeit mit dem Actionfilmregisseur Don Siegel, Auftakt für eine zweite Karriere jenseits der ausgetrampelten Präriepfade.

Unter Siegels Regie drehte er nämlich 1971 auch den ersten Film der legendären „Dirty Harry“-Reihe. Der kompromißlose Kriminalbeamte Callahan, Vorname: Harry, war gleichsam Hollywoods Konkurrenzprogramm zu den britischen 007-Filmen mit Roger Moore: Wo James Bond mit britischem Charme, Witz und Stil agierte, ballerte Inspektor Callahan in rauhbeiniger US-Manier lieber gleich los. Der Italowestern mit seiner Gewalt-Ästhetik ließ einmal mehr grüßen und den 1,93-Meter-Mann, den er groß gemacht hatte, als Idealbesetzung erscheinen. Den vierten „Dirty Harry“-Film von 1983 inszenierte der Hauptdarsteller selbst.

Untreu wurde er der Filmgattung, der er alles verdankte, indes nicht. In „Ein Fressen für die Geier“ (1970) stellte ihm Don Siegel, dem Trend der Zeit folgend, der dem Western mit seinen eisig-eisernen Helden Auflockerungen verordnete, als Filmpartnerin die quirlige Shirley Mac-Laine an die Seite. Privat gingen sich die Frauenrechtlerin und der Republikaner aus dem Weg. Besser verstand er sich beim Dreh von „Der Texaner“ (1976) mit Sondra Locke.

„Man hat mir schon viel nachgesagt, aber nie, daß ich witzig bin“, ließ der Mime 2008 sein filmisches Ebenbild Walt Kowalski verkünden. Man darf das wohl als Anspielung auf sein wenig für Clownerien taugliches Mienenspiel verstehen. Komödien drehte er trotzdem, vorzugsweise mit Sondra Locke, die bis zur häßlichen Trennung 1989 auch privat an seiner Seite war.

In „Bronco Billy“ (1980) nahm er unter eigener Regie das Harter-Kerl-Image aufs Korn. Er spielt darin einen modernen Buffalo Bill, der für seine in die Jahre gekommene Wildwest-Show dringend eine Ersatzfrau benötigt. Hemmungslos ironisiert die Komödie den Mythos vom Revolverhelden, der jederzeit Herr der Lage ist. Als „Mann aus San Fernando“ (1978), der 1980 „Mit Vollgas nach San Fernando“ fuhr, konnte er sich außer auf Locke auch auf die komödiantische Schützenhilfe eines Orang-Utans verlassen. 

„Bronco Billy“ zeigte Wildwest im Krisenmodus und war Spiegel der Zeit: 1979 hatte sich mit John Wayne einer der ganz Großen des Genres in die ewigen Jagdgründe verabschiedet. Sein Tod wirkte wie ein Fanal für das Auslaufen eines in die Jahre gekommenen Unterhaltungsmodells. Der Spaghetti-Western war bei den Ulk-Versionen mit „Nobody“ Terence Hill angekommen. Und nach Michael Ciminos Fiasko mit dem Spätwestern „Heaven’s Gate“ (1980), der die Produktionsfirma United Artists in den Ruin trieb, schien es Anfang der achtziger Jahre wahrscheinlicher, mit dem Abfilmen von Aquarien Geld zu verdienen als mit einem klassischen Cowboy-und-Indianer-Film

Angebrochen war die große Zeit von Spielberg, Lucas und Zemeckis, die mit ihren innovativen Ansätzen den Western wie von gestern aussehen ließen. Es bedurfte schon des vollen Einsatzes der letzten verbliebenen Ikone des Genres, um den Totgesagten wieder zum Leben zu erwecken. Mit zwei Überraschungserfolgen gelang 1985 tatsächlich die Reanimation sowohl der klassisch amerikanischen Pferdeoper („Silverado“) als auch, mit Eastwoods „Pale Rider – Der namenlose Reiter“, des eher von Leone und Corbucci beeinflußten europäischen Ablegers.

Auffällig sind die Parallelen zu dem vom Publikum nicht angenommenen „Heaven’s Gate“: In beiden Filmen geht es um den Kampf von Unterprivilegierten gegen brutale Bonzen. Doch während Cimino dekonstruktivistisch mit den für den Western konstitutiven Topoi verfuhr, hielt Eastwood instinktsicher am Motiv des unbesiegbaren Namenlosen fest, der alles wagt und alles gewinnt.

Mit „Silverado“ hatte parallel der Aufstieg einer neuen Legende des Genres begonnen: Kevin Costner, dem 1990 mit „Der mit dem Wolf tanzt“ ein epochaler Erfolg gelang. Drei Jahre danach kam es zum dramatischen Duell zwischen dem in die Jahre gekommenen und dem nachgerückten Leinwandhelden: In „Perfect World“ spielt Costner einen entflohenen Häftling, den Eastwood zur Strecke bringen muß. Das Ergebnis ist einer der besten Filme beider. Selten hat Costner mehr elektrisiert als in dieser Variation von Jean-Luc Godards Klassiker „Außer Atem“.

Westernhelden gehen meist einen klar vorgezeichneten Weg. Eastwoods Filmkarriere verlief nicht so geradlinig. Wie eine Wüstenklapperschlange hat er sich immer wieder gehäutet und ist verjüngt daraus hervorgegangen. Das gilt vor allem für seine Arbeit als Regisseur. 1971 hatte er sich für „Sadistico“ erstmals sowohl vor als auch hinter die Kamera getraut. Vorausgegangen war zwei Jahre zuvor die Gründung seiner eigenen Produktionsfirma Malpaso, der er seinen immensen Reichtum verdankt, der heute krisensicher in Immobilien steckt. Schauplatz des Stalker-Krimis ist der kleine kalifornische Küstenort Carmel, in dem Eastwood seit Beginn seiner Karriere wohnt und sogar einige Jahre Bürgermeister war.

Als er 1993 mit „Erbarmungslos“ vier Oscars abräumte – es war der bis dahin glorreichste Erfolg seiner Karriere –, sah das nach einer späten, überfälligen Würdigung aus, nach Epilog des Eastwood-Epos. Dazu paßte, daß der Film selbst ein Abgesang auf gängige Westernmythen ist. Der Haudegen hatte endlich doch in den Cimino-Modus geschaltet und, auf seine Weise, den Western kräftig entmythologisiert.

Epilog? Der Mann aus Oakland kam jetzt erst richtig auf Touren. Der deutsche Regisseur Wolfgang Petersen ließ ihn 1993 für „In the Line of Fire“ wie einen jungen Hüpfer über Hochhausdächer flitzen. 1995 zeigte er in „Die Brücken am Fluß“, ein Liebesduett mit Meryl Streep, seine romantische Seite. 1997 wilderte er mit „Absolute Power“ im Revier des Politkrimis. Selbst als er sich als Teil einer Horde von „Space Cowboys“ zur Jahrtausendwende selbst ins Weltall schoß, was nun wirklich nach Karriere-höhepunkt aussieht, hatte der Unermüdliche den Gipfel immer noch vor sich. Er erreichte ihn mit Mitte siebzig.

Den Auftakt bildete 2003 die Dennis-Lehane-Verfilmung „Mystic River“. Schauspiel-Hochkaräter wie Sean Penn, Tim Robbins und Kevin Bacon spielen sich in dem Schuld-und-Sühne-Stück um Freundschaft, Verrat und Mißbrauch förmlich die Seele aus dem Leib. Penn und Robbins gewannen beide den Oscar. Für weitere vier Trophäen war das Werk nominiert.

Noch erfolgreicher war „Million Dollar Baby“ (2004), in dem der Multimillionär auch wieder die männliche Hauptrolle übernahm und sich selbst zu einem Déjà-vu verhalf: Wieder konnte er sich den Goldjungen für den besten Film und die beste Regie ins Regal stellen. Wie „Mystic River“ landet „Million Dollar Baby“ einen emotionalen Wirkungstreffer nach dem anderen. Ebenso routiniert wie raffiniert verpaßt der Regisseur des Boxer-Melodrams der Handlung in der Mitte einen rechten Haken und führt sie in eine völlig neue Richtung. Zu den beiden Meisterwerken schrieb das Universalgenie auch selbst die Musik. 

Für das Filmdoppel „Flags of Our Fathers“ und „Letters from Iwo Jima“ (beide 2006) über eine Schlacht im Pazifikkrieg hagelte es erneut Oscar-Nominierungen. Mit „Der fremde Sohn“ verhalf er zwei Jahre später Angelina Jolie in der Rolle einer Mutter, die widerrechtlich in die Psychiatrie eingewiesen wird, zu einer Glanzleistung. Das Tatsachendrama wies die Richtung für die letzte Dekade: Auch „Invictus“ (2009), „J. Edgar“ (2011), „American Sniper“ (2014), „Sully (2016), „15:17 to Paris“ (2018) und seine jüngste, 38. Regiearbeit „Der Fall Richard Jewell (2019), die bei uns im März hätte anlaufen sollen, widmen sich realen Personen und Begebenheiten. Im Fokus stehen Helden des Alltags, die extreme Umstände zu extremen Höchstleistungen treiben. „Hereafter – Das Leben danach“ (2010) wurde die neben „The Impossible“ (2012) eindrücklichste filmische Aufarbeitung der Tsunami-Katastrophe von 2004. 

Apropos „Hereafter“: Ist da was nach dem Tod? Als vor zehn Jahren Matthias Matussek, selbst gläubiger Katholik, den Regiealtmeister für den Spiegel mit der Frage nach dem Danach überfiel, glich er ein bißchen dem 27jährigen Nachwuchspfarrer, der den bärbeißigen Walt Kowalski zur Beichte zu überreden versucht und sich als Reaktion einhandelt: „Dann beichte ich am besten jetzt gleich mal, daß ich mir nie viel aus der Kirche gemacht hab’.“ Sein Alter ego war da etwas diplomatischer. „Vielleicht, vielleicht auch nicht“, so Eastwood. „Beides ist o.k.“

Kowalski geht kurz vor dem grandiosen Finale von „Gran Torino“ natürlich doch noch zur Beichte. Dann steckt er den Kopf in die Schlinge. Und wird zum Märtyrer.