© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 22/20 / 22. Mai 2020

Nichts ist so, wie es scheint
Literatur: „Die rechtschaffenen Mörder“ von Ingo Schulze
Thorsten Hinz

Das neue Buch von Ingo Schulze lag noch nicht auf dem Ladentisch, da hatten die Rezensenten der Leserschaft schon klargemacht, wie sie es zu verstehen hat: als hochpolitischen „Roman der Stunde“, und zwar „(in) einer Zeit, in der viele Bürgerliche offenbar die politische Orientierung verloren haben“ (Stern). Der Autor persönlich hat in zahlreichen Interviews dieser Deutung zugestimmt. Tatsächlich spielt die Handlung in Dresden, Dunkeldeutschlands Hauptstadt; von Fremdenfeindlichkeit, Pegida, vom 20. April und einem Wehrmachtsstahlhelm ist die Rede. Doch die Dinge liegen – zum Glück für den Roman – komplizierter.

Der erste, umfangreichste der drei Teile hebt im Legenden- oder Märchenton an: „Im Dresdener Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoß.“ Der Antiquar heißt Norbert Paulini und wurde 1953 im traurigen Monat Juni geboren. Seine Mutter, Inhaberin eines Antiquariats, starb wenige Tage später an einer Sepsis. Ein untergründiger Zusammenhang zwischen Datum und Krankheit ist zu vermuten.

Der kleine Norbert wird im Wortsinne auf Büchermassen gebettet; sein Schicksal ist vorgegeben. Als leidenschaftlicher Leser und Bibliomaniac erfüllt er das mütterliche Vermächtnis und läßt nach Jahrzehnten mit Unterstützung der Vermieterin – eine Art Ersatzmutter für ihn – in einer angegrauten Stadtvilla das suspendierte Antiquariat wieder aufleben. Wie besessen beschafft er alte und neue Bücher, die in der DDR schwer oder so gut wie gar nicht erhältlich sind.

Lebensführung in einer DDR-Nische

Für Bücherliebhaber im ganzen Land wird das Antiquariat zur Pilgerstätte, wo er sie mit der Hoheit eines Kirchendieners oder Museumspförtners empfängt. Wohnung und Geschäft sind eine Einheit, private Neigung und Beruf fügen sich zu einer ganzheitlichen, geistigen Existenz zusammen. Wie Carl Spitzwegs „Bücherwurm“ hat Paulini sich eine eigene Welt gebaut und die äußere scheinbar überwunden. Die Politik ignoriert er. Sogar die Heirat und das Zeugen des Sohnes geschehen gleichsam nebenbei. Paulini ist das Musterexemplar ästhetischer Lebensführung in einer DDR-Nische. Die Lebenshaltungskosten sind niedrig, die Konsumgüter unansehnlich und Fernreisen unmöglich; zur Selbstvervollkommnung bleibt der Weg nach innen.

Während des Umbruchs Ende 1989 zählt ihn die Lokalpresse zu den „Zehn Aufrechten“ unter den Dresdner Gewerbetreibenden, doch seine Exklusivität und seine Lebensgrundlage befinden sich bereits in Auflösung. Bücher jeder Art sind nun im Überfluß vorhanden, das Interesse der Leute richtet sich auf die bunte Warenwelt, und die Wege der Erkenntnis führen zu den lange vorenthaltenen Sehnsuchtsorten. Paulini, eben noch ein Objekt der Bewunderung, der Ehrfurcht und auch der Bespitzelung – die ja gleichfalls eine Form der Wertschätzung ist –, schrumpft zum Gegenstand des Mitleids, zum komischen Vogel, zu „Prinz Vogelfrei“. Sein Umsatz sinkt gegen Null, von der Frau, die IM-Berichte über seine Kundschaft verfaßt hatte, läßt er sich scheiden. Die Alteigentümer der Villa, das Internet, das Elbhochwasser zwingen ihn endgültig in die Knie. Er arbeitet als Aushilfskraft im Supermarkt und als Nachtportier in einer Pension, wo er sich mit arroganten Wessis prügelt. Im Abstieg sucht er Halt bei Gottfried Benn: „(...) dennoch die Schwerter halten vor die Stunde der Welt.“

Mit den Resten seiner Bücherschätze zieht er an einen entlegenen Ort in der Sächsischen Schweiz, wo er Besuch von der Polizei bekommt. Der Sohn und vielleicht sogar der Vater stehen im Verdacht, sich an fremdenfeindlichen Ausschreitungen beteiligt zu haben. Der Bericht bricht mitten im Satz ab, der Legendenton läßt sich nicht länger durchhalten, die Geschichte vom ehren- und standhaften Zinnsoldaten des Ostens, der vom Westen zu Fall gebracht wird, nicht weitererzählen.

Im zweiten Teil tritt der Berliner Schriftsteller Schultze – in dem ein Alter ego des Romanautors zu erkennen ist – als Ich-Erzähler auf und gibt sich als Verfasser der abgebrochenen Hagiographie zu erkennen. Gleichfalls in Dresden aufgewachsen, war er in seiner Studentenzeit Paulinis Kunde. Es stellt sich heraus, daß jetzt beide um dieselbe Frau, Lisa, konkurrieren. 

Zur Sprache kommen die Machtverhältnisse im deutschen Kulturbetrieb, wo eine „natürliche Verachtung des Westens gegenüber dem Osten“ herrscht. Ein Ost-Autor muß, um Erfolg zu haben, „Konzessionen machen“, ja eine regelrechte „Ost-Entleibung“ vornehmen. Schultze hat Erfolg und Geld, er kann schreiben und sagen, was er will – aber nur, weil er genau weiß, wie weit er gehen darf. Im Wortgefecht läßt Lisa sogar das böse Wort vom „literarischen Gesindel“ fallen. Auch Schultze fragt sich, ob er sein Renommee wirklich ausschließlich seinem Talent verdankt oder auch der Tatsache, daß er hegemoniale Erwartungen bedient und sich beim Schreiben mehr dem Effekt als der Wahrheit verpflichtet fühlt. 

Paulini und Lisa verweigern den Kotau

Seine sehr spezielle DDR-Existenz hatte Paulini auch „(zum) Herrschaftswahn, zur Überhebung, zum Blick von oben herab“ prädestiniert, doch Schultze muß auch dessen Vorwurf ernst nehmen, er und die anderen „Großschriftsteller“ wollten die Menschen mit ihren Urteilen umstellen, die Diskursregeln  bestimmen, also Macht ausüben. Paulini und Lisa verweigern den Kotau. Als zur Sprache kommt, daß dem Sohn eine Gefängnisstrafe wegen „fremdenfeindlicher Ausschreitungen“ droht, setzt Lisa den Begriff gestisch in Anführungszeichen.

Paulini hält den Polizisten vor: „Kümmert Sie das nicht, daß ich hier oben hausen muß, während sich Tausende, Zehntausende frisch zugereister junger Männer aussuchen dürfen, in welcher Stadt sie sich auf unser aller Sozialhilfepolster niederzulassen die Güte haben, um fleißig weiter Kinder zu zeugen und zwischendurch ihre Stirn auf dem Moscheeteppich zu wetzen?“ Der Vorhalt bleibt unerwidert.

Am Ende sind Lisa und Paulini tot, in den Bergen der Sächsischen Schweiz abgestürzt. War es ein Unfall? Ein erweiterter Suizid? Oder gar ein Doppelmord? Im letzten dritten Teil begibt Schultzes (West-)Lektorin sich auf Recherche. Sie trifft auf ein bosnisches Ehepaar, polyglotte, hochkultivierte Leute, die in der zerstörten bosnischen Nationalbibliothek in Sarajevo gearbeitet hatten, die den Mörderbanden knapp entkommen sind und nun Paulinis hinterlassene Bücher hüten. Die Bemerkung, daß Paulini sich „radikalisiert“ und ein „menschenverachtendes Verhalten“ an den Tag gelegt hätte, weist der Mann zurück: „Was für eine Welt, wenn kein Platz mehr ist für die Schüchternen, die lieber träumen als die Welt erobern?“ 

Nichts ist so, wie es auf den ersten Blick scheint. Der Schriftsteller Schulze ist klüger als der Interviewpartner Schultze, doch vielleicht ist die politische Eindimensionalität der Interviews eine Schwejksche List. 

Die Ost-West-Elegie wirkt aus der Zeit gefallen

Was nicht heißt, daß Schulze ein wirklich guter Roman gelungen ist. Die kriminalistische Wendung zum Schluß dient dazu, dem biedermeierlichem Erzählfluß nachträglich ein bißchen Schwung zu geben und den reißerischen Titel zu rechtfertigen. Die Romankonstruktion ist schlicht: Sie besteht aus zwei linearen Erzählungen, die wie zwei durchsichtige, mit unterschiedlichen Mustern versehene Folien übereinandergelegt wurden, woraus ein neues, komplexeres Muster entsteht. Ein Epilog liefert die Gebrauchsanweisung zum besseren Verständnis.

Doch der Roman bleibt viel zu zaghaft. Nicht bloß der Legendenton des ersten Teils, auch seine biedere Ironisierung, der spitzwegische DDR-Bücherwurm als Repräsentant eines reaktionär-essentialistischen Kulturbegriffs und überhaupt die Ost-West-Elegie wirken wie aus der Zeit gefallen. Paulini erscheint wie ein blasser Abklatsch des Peter Kien aus Elias Canettis 90 Jahre alter Roman-Groteske „Die Blendung“: Kien hat sich in seiner riesigen Bibliothek verbunkert, sein fortschreitender Wahnsinn kollidiert mit dem Wahnsinn der Außenwelt, und alles endet in einem phantastischen Autodafé.

Eines der letzten noch für Ost-Mark erhältlichen Bücher war ein Band mit Aufsätzen von Jürgen Habermas aus dem Leipziger Reclam-Verlag. Der Sturz der kommunistischen Regimes in Osteuropa, war dort zu lesen, sei lediglich eine „nachholende Revolution“, die „kein neues Licht auf unsere alten Probleme“ werfe. Es handele sich um „ein Ausgreifen der Moderne (…). Der Geist des Okzidents holt den Osten ein, nicht nur mit der technischen Zivilisation, sondern auch mit seiner demokratischen Tradition.“

Daran anknüpfend, stellt sich dem zeitgenössischen Romanautor eine reizvolle Aufgabe: Finde die Fehler! Wage eine Groteske auf die real existierende Bundesrepublik!

Apropos Fehler: Die auf Seite 139 erwähnte Buchreihe aus der DDR hieß „Bibliothek deutscher Klassiker“ (und nicht: „der Klassik“); die Grimmelshausen-Ausgabe umfaßte vier, nicht fünf Bände.

Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2020, gebunden, 320 Seiten, 21 Euro