© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Gallisches Dorf an der Spree
Paul Rosen

Ganz Deutschland trägt Maske. Ganz Deutschland? Nein, in einem Areal von geschätzten zehn Hektar Größe mitten in Berlin gilt das alles nicht: In den Gebäuden des Bundestages geht es ungezwungen zu, die obligatorischen Schilder („Betreten nur mit Mund- und Nasenabdeckung“) sucht man hier vergeblich. Natürlich existieren Regeln: Im Plenarsaal etwa wurde Vizepräsidentin Petra Pau (Linke) in der vergangenen Sitzungswoche nicht müde, in Gruppen stehende Abgeordnete der AfD zur Einhaltung des Abstandsgebots aufzufordern. Bei den Plenarsitzungen müssen Sitze zwischen den Abgeordneten frei bleiben. Öffentliche Anhörungen verdienen ihren Namen nicht mehr, weil die Öffentlichkeit ausgeschlossen wird. Es gebe Übertragungen im Internet, was öffentlich genug sei, heißt es.

Wenn die Kameras ausgeschaltet und die Sitzungen beendet sind, wird alles anders: Im Reichstagsgebäude, im Jakob-Kaiser-Haus und den Nebengebäuden, in denen zusammen über 10.000 Menschen arbeiten dürften, werden keine Masken getragen. Zwar gibt es Einschränkungen in den Kantinen. So darf der Kaffee in der Espresso-Bar nicht vor Ort getrunken, sondern muß mitgenommen werden. Und in der Hausmitteilung 139/2020 wird dazu aufgerufen, sorgfältig die Hände zu waschen beziehungsweise zu desinfizieren – was aber nicht so einfach ist, wenn an Eingängen die Behälter mit Desinfektionsmitteln tagelang leer sind.

Das lockere Verhalten führt zu Erscheinungen, die dann unter dem Stichwort „Corona Gate“ bekannt werden: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) wurde in einem überfüllten Aufzug fotografiert, FDP-Chef Christian Lindner bei der Umarmung eines Freundes nach dem Restaurantbesuch. Das wundert nicht: Wer sich in den Bundestagsgebäuden so verhält wie früher, vergißt draußen in der realen Welt schon mal die Maske in der Anzugtasche. Er sei „spontan freundschaftlichen Gefühlen gefolgt“, sagte Lindner und fuhr fort: „Das war ein Fehler, denn wir alle müssen uns an die Regeln halten.“

Sich an die Regeln zu halten, das empfiehlt auch Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU). Nur gibt es im Bundestag so gut wie keine Regeln für den Schutz der Beschäftigten, deren oberster Dienstherr Schäuble ist. Abteilungs- und Gruppenleiter entscheiden ohne Kriterienkatalog über Heim- und Schichtarbeit. Besprechungen werden zum Teil immer noch in nicht desinfizierten Räumen im Besenkammerformat abgehalten. Die Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin für „Beschäftigte mit erhöhtem Krankheitsrisiko“ bleiben unbeachtet. Wenn man keine Gefährdungsbeurteilungen vornimmt, gibt es auch keine Gefährdung, so das inoffizielle Motto.

Für Schäuble ist ohnehin Rückkehr zur Normalität angesagt: „Wir versuchen, die Videokonferenzen Schritt für Schritt wieder in reale Sitzungen umzuwandeln.“ Kein Wunder, denn die hoffnungslos veraltete Bundestagstechnik läßt Videokonferenzen zum technischen Abenteuer werden: Der Ton bleibt wie in der Frühzeit des Internets hinter den Bildern zurück.