© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Der Energieriese
Kernkraft und Rußland: Der größte Nachfolgestaat der Sowjetunion baut die kleinsten und effizientesten Atomreaktoren. Sehr zum Leidwesen von EU und USA
Jörg Sobolewski

Als im Dezember letzten Jahres der neue russische Atomeisbrecher „Arktika“ zu seiner ersten Erprobung im Finnischen Meerbusen auslief, stieß das außerhalb von Branchenmagazinen in Westeuropa auf geringes Interesse. Gerade im Land der Angela Merkel gilt Nuklearenergie weithin als besonders schmutziges Thema. Als etwas, mit dem sich auf der politischen Wohlfühlskala nicht wirklich Punkte sichern lassen.

Auf der anderen Seite des Atlantiks jedoch, im Land des Donald Trump, wird der Bau des Typschiffs einer neuen, noch größeren Reihe an Atomeisbrechern aufmerksam verfolgt.

Dort beobachtet man ohnehin das russische Engagement in der Arktis mit Sorge. Schließlich bedeutet der Versuch, mit der Nordostpassage eine neue Schifffahrtsroute zu etablieren, daß amerikanische Basen in Pazifik und Indik an die Peripherie der Weltpolitik rücken. Eine unangenehme Vorstellung für eine Seemacht angelsächsischer Tradition. Doch es ist nicht allein die russische Vision einer endlosen Kette von Frachtschiffen, die an der sibirischen Arktisküste entlangdampfen, die den Amerikanern schlaflose Nächte bereitet. Es ist vielmehr die nüchterne Erkenntnis, daß der ehemalige und neue Gegner im Osten die Weltmacht auf nahezu allen Bereichen der Nukleartechnik abgehängt hat.

Eine Diagnose, die nun auch das US-Energieministerium in seinem neuen Grundlagenpapier zur Zukunft amerikanischer Nukleartechnik gestellt hat. In schonungsloser Offenheit beschreiben die Verfasser eine Welt der Atomenergie, in der just das Land ins Hintertreffen geraten ist, das mit dem Atomsprengkopf das Atomzeitalter eingeläutet hatte. In dem Text mit dem sperrigen Titel „Restoring America’s competitive nuclear energy advantage“ (Amerikas Vorsprung in der Kernenergie zurückgewinnen) wird vor dem russischen – und in geringerem Maße auch chinesischen – Technologievorsprung gewarnt, den diese beiden Länder in den letzten Jahren erworben hätten. Über fünfzig neue Kernkraftwerke in neunzehn Ländern habe Rußland in seinen Auftragsbüchern. Ein Gesamtvolumen von über 133 Milliarden US-Dollar und das von einem Land, das in der Vergangenheit seine Rolle als Energieexporteur „als Waffe eingesetzt“ habe. 

Auch China mit immerhin zwanzig im Bau befindlichen oder geplanten Reaktoren in mehreren Ländern außerhalb der Volksrepublik bereitet den Spezialisten im US-Energieministerium Kopfzerbrechen – in geringerem Maße allerdings, das Hauptaugenmerk des Papiers liegt auf dem ehemaligen Hauptfeind des Kalten Krieges. Dessen Fähigkeiten, Nukleartechnik kleiner und effizienter zu machen, erhöhe die Attraktivität für mögliche Kunden, zu denen zum amerikanischen Entsetzen mittlerweile auch Nato-Partner gehören.

Amerika müsse wieder technisch wettbewerbsfähig werden, so die Verfasser, und es müsse global wieder als nukleare Führungsmacht auftreten. Eine Ankündigung, die amerikanische Energiekonzerne gern hören werden, beklagen diese doch seit langem einen Wettbewerbsnachteil gegenüber ihren russischen und chinesischen Konkurrenten.

Amerika will mit allen Mitteln aufholen

Daß diese „Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit“ nicht allein auf maßgebliche Verbesserungen am Produkt  – in dem Fall also der amerikanischen Nukleartechnik – aufbauen soll, wird an mehreren Stellen deutlich. Denn die Wettbewerber seien schließlich Staatskonzerne, die mit „unfairen“ Mitteln ihren Wettbewerbsvorsprung erreicht hätten. Eleganter kann das Eingeständnis der eigenen Untätigkeit in den vergangenen zehn Jahren wohl kaum formuliert werden. Richten soll es nun ein flankierender Einsatz US-amerikanischer Machtmittel. Bei der Nukleartechnologie hört der freie Markt, zumindest nach Ansicht der Regierung in Washington auf. Was ein unterlegenes Produkt nicht erreichen kann, muß im Zweifel politischer Druck regeln.

Europa wird häufiger genannt, gerade hier sei der russische Einfluß „besorgniserregend“. Tatsächlich ist der alte Kontinent in einer gefährlichen Zwangslage, politisch ist man in der Vergangenheit meist den Weisungen aus Washington gefolgt. Selbst dort, wo man es nicht tat, mußte man schnell einsehen, daß ohne Rückendeckung aus Übersee nicht einmal ein mittelprächtiger libyscher Diktator aus eigener Kraft gestürzt werden konnte. Die Liste europäischer Fehlschläge in der diplomatischen Umgebung ist lang – und profitiert davon hat in erster Linie Rußland. In dieser Phase der inneren Zerrissenheit der EU wächst zugleich die Abhängigkeit von der Energiezufuhr aus dem Riesenreich. Der Bau der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 hat die divergierenden Interessen innerhalb des Staatenbundes neu zutage gebracht. Gerade bei den baltischen und osteuropäischen Staaten weckt Moskaus Rolle als „Herr über die Heizung“ ungute Erinnerungen. Sie werten die russische Energiepolitik als versteckten Imperialismus, angenehmer als der alte sowjetische, aber im Grundsatz doch ähnlich.

In der Bundesrepublik hingegen freuen sich einige über günstige Gaspreise, und viele sehen in der Zusammenarbeit mit Moskau vor allem eine Möglichkeit für beiderseitigen Profit. „Deutsche Technologie für russische Rohstoffe“ als Wirtschaftstreiber. Die Kanzlerin jedoch will davon nicht allzuviel wissen. Außenpolitisch hat sie, zumindest in der Vergangenheit, im großen und ganzen die US-amerikanische Linie aus Containment und Sanktionen mitgetragen, zum Leidwesen des Wirtschaftsrates ihrer eigenen Partei, der vor allem die wirtschaftlichen Folgekosten der immer noch andauernden Sanktionen im Blick hat.

Was also nun konkret tun mit alten und neuen russischen Kernkraftwerken in Ungarn oder anderen Staaten Osteuropas in denen Kraftwerke bald ersetzt werden müssen? Oder mit vorbeischwimmenden russischen Reaktoren, wie der „Akademik Lomonossow“ vor Bornholm? Mit dem Export von Anlagen kommt auch immer der darauf folgende Export von Wartungsarbeiten und Brennstoffen. Bereits jetzt ist der russische Bergbaukonzern „Atomredmetzoloto“ (Armz) einer der größten Exporteure für Uran und Uranprodukte in der Welt – ein Konzern, der über einen kleineren Umweg komplett unter der Kontrolle der russischen Atomenergiebehörde steht. Armz ist zwar nur zu 1,1 Prozent im direkten Besitz von Rosatom – der Rest gehört aber anderen Töchtern des Staatsunternehmens, die es zu 100 Prozent kontrolliert.

Investitionen sorgen für langfristige Bindungen

Es sind diese Folgebindungen, die die US-Energiebehörde mit „long term commitment“ umschreibt. Einer langfristigen Bindung an Moskau, die nicht im westlichen Interesse sei. Vor dem Hintergrund der chinesischen Herausforderung im Pazifik bleibt Washington dabei aber nur eingeschränkter Spielraum. Mehr denn je wird die Rolle europäischer Entscheidungsträger in dieser Frage für eine langfristige Weichenstellung sorgen.

Mit einer Offenheit gegenüber der russischen Nuklearindustrie böte sich die Möglichkeit, CO2-neutrale Hochtechnologie zu einem wettbewerbsfähigen Preis einzukaufen, zum Tausch bekäme Moskau einen weiteren Druckpunkt in sein ohnehin schon großes Arsenal an Einflußmöglichkeiten.

Eine Zwickmühle, die einige kleinere Spieler in Europa für sich zu nutzen wissen, Litauen etwa. Die Republik im Baltikum verließ sich bis 2008 für ihre Ener-giezufuhr auf einen alten sowjetischen Reaktor. Einen der Tschernobyl-Baureihe. Auf Druck der EU verabschiedete man sich in Wilna von der Atomenergie und investierte in eine der modernsten Anlagen für Flüßiggas. Doch in den letzten Jahren ist der litauische Atomausstieg unter Druck gekommen. Weißrußland baut in unmittelbarer Nähe ein neues Atomkraftwerk (AKW). Genauer gesagt: läßt es bauen – Auftragnehmer für das Großprojekt ist Rosatom, die russische Atomenergiebehörde.

EU gespalten angesichts neuer russischer AKWs

Seit Baubeginn lobbyiert Litauen intensiv gegen die „tickende Zeitbombe“ an seiner Grenze. Der Reaktor sei nicht sicher, veraltet und obendrein in seiner Bauplanung intransparent. Selbst ein angebliches Erdbeben im frühen zwanzigsten Jahrhundert in dem Gebiet wird zitiert, das aber nach Meinung vieler Experten tatsächlich nie stattgefunden hat.

Nicht nur mit dem Erdbeben ist es nicht sehr weit her. Auch der neue Reaktor ist nicht nur auf dem Stand der Technik, sondern bei der Planung und Durchführung des Kraftwerkbaus waren europäische Experten jederzeit willkommen. Bei einer Kontrollbegehung der europäischen ENSREG (Europäische Gruppe der Regulierungsbehörden für nukleare Sicherheit), einer Expertengruppe der EU-Kommission, erhielt der Reaktor gar ein „durchgehend positives“ Ergebnis. Auch litauische Experten waren eingeladen und verhielten sich im Nachgang auffällig still.

Unabhängige Beobachter vermuten hinter der litauischen Anti-Atom-Rhetorik vor allem Furcht um die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Gaskraftwerks. Denn dessen Strom könnte preislich mit dem weißrussischen Atomstrom nicht mehr konkurrieren.

Dennoch werden die litauischen Sorgen in westlichen Lobbykreisen gespiegelt, in der Nato-nahen niederländischen Denkfabrik HCSS (The Hague Centre for Strategic Studies) warnt man vor einer „Katastrophe mit Ankündigung“. Der Verfasser des Artikels, Sijbren de Jong, arbeitet im Hauptquartier der Nordatlantik-Allianz und muß sich damit zumindest vorwerfen lassen, nicht völlig unparteiisch in seinem Urteil zu sein. Für wen die russische Atomoffensive zur Katastrophe wird, ist noch nicht ausgemacht. Damit der Schaden nicht in Europa eintritt, wird es darauf ankommen, eine eigene Position zwischen Washington und Moskau zu finden. Ob das überhaupt noch möglich ist, bleibt aber fraglich.





Handelsrouten aus Nord-Perspektive

Mobile Kernkraftwerke lassen Rußland die arktische Handels­route (rot gestrichelt) entlang Sibiriens Küste leichter erschließen. Schiffe könnten hier etwa 6.000 Kilo­meter Fahrweg zwischen Ostasien und Europa einsparen. Auch könnten US-amerikanische Flottenbasen im Pazifik und Indik umfahren werden.