© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Wer ist rechts ?
Versuch einer Typologie: Einführung in eine neue JF-Serie über Autorität, Freiheit, Gemeinschaft, Ganzheit
Karlheinz Weißmann

Im Februar 1999 brachte die französische Zeitschrift Eléments ein Dossier mit dem Titel „Die 36 Familien der Rechten“. Um diese erstaunliche Menge besser überblicken zu können, ordnete man sie unter dem Aspekt der ideologischen Ausrichtung, des Stils und der Stammeszugehörigkeit. Die Aufzählung reichte von der „Konterrevolutionären“ bis zur „Nationalrevolutionären Rechten“, von der „Regionalistischen“ bis zur „Personalistischen Rechten“, von der „Libertären“ und „Liberalen“ bis zur  „Rassistischen Rechten“, von der „Christdemokratischen“ bis zur „Faschistischen Rechten“, von der „Moralistischen“ bis zur „Nazistischen Rechten“, nicht zu vergessen die „Aktivistische Rechte“ sowie die „Muskelrechte“. Womit nur die wichtigsten genannt sind.

Selbstverständlich hatte das Ganze etwas Spielerisches und einen ironischen Unterton, ergänzte man die Kurzbeschreibung jeder „Familie“ um Devise, Hauptfeind, wichtigste Autoren, Gegenstände der Bewunderung und Lieblingsfilme. Trotzdem wirkte die Darstellung erhellend. Vor allem im Hinblick auf den natürlichen Pluralismus der Rechten und die Rolle, die ihre Verortung spielt.

Konflikte zwischen Linken und Rechten

Der Pluralismus der Rechten ist kein neues Phänomen. Sie war von Beginn eine Vielheit. Anders als die Linke. Die war von Beginn ein Block. Das hat seine Hauptursache darin, daß die Linke in gewissen Überzeugungen des 18. Jahrhunderts wurzelt. Dasselbe gilt für die Mitte, die sich nach einem „Schisma“ (Jacob Talmon) von der Linken abgespalten hat. Im Kern geht es beiden, der Linken wie der Mitte, nur um vier Axiome: Der Mensch ist gut, die Menschen sind gleich, die Welt ist (vollständig) erfaßbar, die Geschichte ist Fortschritt.

Diejenigen, die dieses Credo nicht mittragen wollten, waren entweder Anhänger der klassischen Philosophie oder enttäuschte Aufklärer oder Romantiker, gläubige Christen oder einzelne, die sich einer bestimmten Tradition verpflichtet fühlten. Den vier Axiomen der Linken setzten sie entgegen: Dem Menschen ist alles zuzutrauen, die Menschen sind ungleich, die Welt ist nicht (vollständig) erfaßbar, die Geschichte ist ein Wechsel von Aufstieg und Verfall.

Mit der Französischen Revolution brach der Konflikt zwischen der Linken und der Rechten offen aus. Er ist bis heute nicht erloschen, obwohl erstere immer dieselbe blieb, während letztere eine ganze Reihe von Mutationen durchlief. Der Philosoph Robert Spae-mann hat das mit dem unaufhebbaren Gegensatz von „Lustprinzip“ und „Realitätsprinzip“ erklärt. Denn die Linke akzeptiert keine gesellschaftliche Ordnung jenseits von Eden. Alle Anstrengungen, die auf mehr Egalität, mehr Inklusion, mehr Teilhabe hinauslaufen, sind ihrer Meinung nach notwendig, weil sie ans Ende der Geschichte führen. Das erscheint der Rechten nicht nur nicht erreichbar, sondern das Erreichen auch nicht wünschenswert. Sie wittert „Seinshaß“ (Jacques Maritain), der nicht erträgt, was ist. Und ihr Wirklichkeitssinn sagt, daß der Weg in die Hölle mit guten Absichten gepflastert wird, daß mehr Egalität an der einen nur mit mehr Ungerechtigkeit an anderer Stelle zu haben ist, daß Inklusion bloß umsetzt, wer die Abweichler überwacht und nötigt, daß Teilhabe allein durch Umverteilung qua permanentem Zwang erzielt werden kann, den irgend jemand ausüben muß, der etwas gleicher ist als die übrigen.

Mit diesen Feststellungen wurde allerdings nur ein erster Schritt getan. Es bleibt ein zweiter nötig, der erklärt, warum die französische Rechte in vielem so verschieden von der deutschen ist. Man könnte dasselbe ohne Zweifel auch mit Blick auf die britische, amerikanische, italienische, serbische oder russische Rechte sagen. Es gibt in Deutschland jedenfalls keine Legitimisten oder Bonapartisten wie in Frankreich, keine Tories wie in Großbritannien, keine Alternative Right wie in den USA, keine Faschisten wie in Italien, keine christlichen Nationalisten wie in Serbien und keine Eurasier wie in Rußland.

Selbstverständlich hat man es hier und da mit Importen versucht, aber die sind immer fehlgeschlagen. Die Haupt-ursache dafür liegt im Naheverhältnis der Rechten zur Geschichte. Sie kann von den Kollektiverfahrungen der eigenen Gemeinschaft nicht absehen. Was sie auf eine bestimmte, unverwechselbare Weise prägt. Die Linke und selbst die Mitte mag eine Internationale bilden, die Rechte kann das nicht oder doch nicht in dem Sinn, daß sie die Augen vor den bleibenden Differenzen schlösse.

Aussicht darauf, Wirkung zu entfalten

Also ist in Deutschland auf der Rechten nicht nur ein Neonationalsozialismus ausgeschlossen, sondern auch eine monarchistische Volksbewegung. Die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der ein Brite auf Krone, Westminster und Anglikanische Kirche setzt, sind für uns nicht nachvollziehbar. Ähnliches gilt für den pausbäckigen Amerikanismus. Der Faschismus bleibt immer nur eine exotische Erscheinung. Die Allianz von Vaterland und Altar wurde längst aufgekündigt, und in der Regel hat man in Deutschland den geopolitischen Blick nach Westen oder auf die Mitte gerichtet, nicht in die Weiten des Ostens.

Es mag also hierzulande einzelne geben, die die Wiederkehr des Dritten Reichs erträumen oder die Restauration des Hauses Hohenzollern, Pop- wie Paläokonservative, Fans von Mussolini und Anhänger einer Achse Berlin-Moskau, aber sie finden sicher keine Resonanz für ihre Überzeugungen, von politischer Einflußnahme gar nicht zu reden.

Bleibt die Frage, wie eine relevante Rechte in Deutschland abzugrenzen wäre? Gemeint ist damit nicht zwingend eine Rechte, die über Fraktionen in den Parlamenten oder einflußreiche Organisationen verfügt, aber eine, die Aussicht darauf hat, Wirkung zu entfalten. Man kann das heute im wesentlichen von drei Strömungen sagen, die folgend Populare, Veristen und Archiker genannt werden.

Die Bezeichnungen sind ungewohnt, was dem Zweck dient, vorschnelle Urteile zu hemmen und deutlich machen soll, daß diese nachklassische Rechte von der klassischen Rechten verschieden ist. Ein Moment der Kontinuität besteht allerdings darin, daß Populare, Veristen und Archiker den oben genannten Axiomen zustimmen würden und keine homogene Einheit bilden.

In dem Tableau der „36 Familien“ hat man die Unterscheidung der verschiedenen Linien anhand von Zielwerten vorgenommen: Autorität, Freiheit, Gemeinschaft, Ganzheit. Überträgt man das Konzept und beginnt mit den Popularen, wird man sagen können, daß sie Gemeinschaft und Ganzheit in den Vordergrund stellen, für die Veristen sind es Autorität und Freiheit, für die Archiker Autorität und Ganzheit. Das bedeutet nicht, daß die übrigen Hauptwerte abgelehnt werden, und selbstverständlich treten Mischformen auf. Aber im allgemeinen läßt sich mit Hilfe einer solchen Typisierung ein höheres Maß an Verständnis für ein komplexes Phänomen erreichen.

Um das Verständnis der Rechten geht es in der Regel nicht. Obwohl die Verlagsprogramme und die Bibliotheken von Titeln über die Rechte bersten, wird man kaum Autoren finden, die tatsächlich die Sache, die sie behandeln, begreifen wollen. Ahnungslosigkeit ja, Vorurteile ja, Bestätigungstendenzen ja, aber kein Bemühen um Objektivität und keine Erkenntnis. Worauf das zurückzuführen ist, hat Rüdiger Safranski, dessen politische Heimat ursprünglich linksaußen lag, kurz und knapp erklärt: „Rechts meint in Deutschland gegenwärtig so viel wie rechtspopulistisch, also rechtsradikal, also rechtsextrem, also Nazi, das sind die Gleichsetzungsdelirien in der deutschen Öffentlichkeit.“

Diese „Gleichsetzungsdelirien“ werden im folgenden genauso gemieden wie die „Drei Ds“, die das Charakteristikum aller gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind: Delegitimierung, Dämonisierung, Doppelte Standards. Das heißt, zugrunde liegt die Annahme, daß die Rechte eine legitime politische Richtung ist, daß die reductio ad Hitlerum (Leo Strauss) zu unterbleiben hat und für die Beurteilung der Rechten dieselben Kriterien gelten, wie für die Beurteilung derer, die meinen, daß die Welt ein Marktplatz und Anstand ein Wettbewerbsnachteil ist, oder derer, die irgendwo noch eine Stalinbüste stehen haben und laut darüber nachdenken, ob Massenerschießungen ein probates Mittel zur Lösung der Sozialen Frage wären.

Die Serie „Wer ist rechts“? des Historikers Karlheinz Weißmann wird in unregelmäßigen Abständen fortgesetzt.