© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Monument des Versagens
Haß: Vor 25 Jahren brachte das französische Sozialdrama „La Haine“ erstmals die Banlieue-Thematik in die Kinos
Björn Harms

Vor genau 25 Jahren erschien in Frankreich ein Film, dessen komplexe Auswirkungen in vielerlei Hinsicht bemerkenswert sind. Nicht nur war und ist die cineastische Wucht, die hinter diesem Meisterwerk steckt, außergewöhnlich. Das Sozialdrama führte gleichzeitig zu politischen Dikussionen, die bis heute andauern, und beeinflußte die Popkultur in ganz Europa, wie es nur wenige Filme schaffen. Die Rede ist von „La Haine“ (Der Haß), der am 31. Mai 1995 seine französische Kinopremiere feierte.

Die brisanten Inhalte des Films, sein ungewöhnlich junges kreatives Team, die Tatsache, daß er bei den Filmfestspielen in Cannes einen Preis gewann und sein großer Publikums-erfolg machten „La Haine“ schnell zu einem gesellschaftlichen Phänomen. Auch in seinem 25. Jubiläumsjahr bleibt die Geschichte dreier Jungs aus einer Sozialbautensiedlung vor den Toren von Paris erstaunlich zeitlos. Denn in Frankreichs Vorstädten, den Banlieues, hat sich nur wenig geändert.

Attitüde des Films wurde zum Vorbild vieler Rapper

Die drei Protagonisten des Films, der Araber Saïd (Saïd Taghmaoui), der Jude Vincent (Vincent Cassel), und der Schwarze Hubert (Hubert Koundé) bewegen sich 24 Stunden lang in einer Welt, die sich im freien Fall befindet. Der Zuschauer wird – intensiviert durch monochrome Schwarz-Weiß-Kinematographie und scheppernde HipHop-Beats – direkt in eine angespannte Ghetto-Atmosphäre hineingeworfen. In ihrer Gemeinde Chanteloup-les-Vignes gehören Arbeitslosigkeit, städtische Verwahrlosung und Gewalt zur Tagesordnung. 

Ein kleiner Anlaß reicht – im Film eine Routinekontrolle der Polizei, bei der ein Freund der drei Jugendlichen lebensgefährlich verletzt wird – und es kommt zum Aufstand. Erstmals erreichte die Banlieue-Thematik mit diesem Film ein Massenpublikum. Regisseur Matthieu Kassovitz hatte den Finger in eine offene Wunde der französischen Gesellschaft gelegt, das war jedem klar. Doch was folgte?

Zehn Jahre nach Erscheinen des Films entbrannten in der Banlieue Clichy-sous-Bois in der Nähe von Paris die schwersten Krawalle, die Frankreich je gesehen hatte. Wie ein Lauffeuer breiteten sich diese im gesamten Land aus. Jugendliche, zumeist aus Einwandererfamilien, plünderten unzählige Geschäfte, lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und steckten Autos und öffentliche Gebäude in Brand. Insgesamt dauerte es einen Monat, bis das Land wieder zur Ruhe kam.

Die Gewalt ist niemals aus den Vororten verschwunden. Immer wieder kommt es zu schweren Krawallen, die erstaunliche Parallelen zum Film aufweisen. In der Pariser Banlieue Argenteuil genügte in der vergangenen Woche der tödliche Motorradunfall eines 18jährigen, bei dem das Auto einer Polizeieinheit in der Nähe stand, um tagelange Ausschreitungen zu provozieren.

Die Wut auf die Polizei, der klare Konterpart des Films, ist auch 25 Jahre später überall greifbar. Aus Argenteuil lassen sich häßliche Videos finden, in denen Beamte in die Falle gelockt werden, um sie anschließend mit Pflastersteinen zu bewerfen. Der Vorwurf der ausufernden Polizeigewalt – tatsächlich wurden in den vergangenen Jahren auch Dutzende schwerste Verfehlungen der Beamten dokumentiert – ist omnipräsent und dient als Rechtfertigkeit der eigenen Zügellosigkeit. „Die meisten Polizisten auf der Straße sind nicht da, um euch zu schlagen, sondern um euch zu beschützen!“, regt sich Saïd im Film auf. „Ach ja, und wer beschützt uns vor den Polizisten?“ fragt Hubert.

Der Film vermied es (noch) durch seinen Fokus auf die rassistische Polizeigewalt, die inneren ethnischen Bruchlinien der Vororte aufzuzeigen. 25 Jahre später hat der Anstieg des islamischen Fundamentalismus diese Konflikte rasant verschärft. Die Abschottung wird spürbarer.

Wie aber soll man sich der Gewaltspirale in einem Viertel entziehen, wenn der äußere Feind bereits von Kindesbeinen an klar definiert ist? „Wenn du in die Schule gegangen wärst, wüßtest du, daß Haß nur Haß nach sich zieht“, warnt Hubert seinen Kumpel Vinz in einer Szene. Die trockene Antwort: „Ich war nicht in der Schule, ich war auf der Straße.“

Diese Attitüde wurde auch für zahlreiche Rapstars, die aus den Banlieues stammten, zum Leitbild. In vielen bekannten Liedern finden sich Anspielungen auf konkrete Filmzitate. Überhaupt könnten die Figuren Vinz, Saïd und Hubert aus dem Film entnommen werden und in die heutigen Straßen einer beliebigen Banlieue verfrachtet werden. Ihr Kleidungsstil wäre leicht verändert, ihr abschätziger Blick auf die französische Gesellschaft verzweifelter, der Haß aber wäre immer noch derselbe.

Somit ist der Film auch ein Monument des Versagens – des Versagens aller Parteien, die für diese Verhältnisse gesorgt haben, die aus politisch-korrekten Gründen die Augen verschlossen haben und die seitdem das Blaue vom Himmel erzählten. Rechte Lösungsvorschläge fokussieren sich zumeist auf die ethnische Komponente, während linke Erklärungen auf die soziale Dimension pochen. Alain de Benoist wies schon vor Jahren darauf hin, daß beide Perspektiven nicht getrennt voneinander betrachtet werden können.

Der Wahrheit blickt man indes nur schmerzlich ins Auge: Die Situation in den Banlieues ist nicht mehr umkehrbar, geschweige denn kontrollierbar. Der Haß wird immer da sein.