© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 23/20 / 29. Mai 2020

Der deutsche Hang zum Mitläufertum
Hans-Joachim Maaz über unsere gespaltene Gesellschaft und die neue Lust am Diffamieren
Michael Dienstbier

Ergibt es Sinn, ein ganzes Volk auf die Couch zu legen? Der Psychiater und Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz ist nach über vierzigjähriger Berufserfahrung davon überzeugt, daß solch eine sehr weit gefaßte Gruppenanalyse nicht nur möglich, sondern dringend geboten ist. 

Maaz wurde erstmals 1990 einem breiten Publikum bekannt, als er in seinem Buch „Der Gefühlsstau“ die Auswirkungen einer DDR-typischen Prägung auf psychische Befindlichkeiten und daraus resultierender Störungssymptomatik beschrieb. Maaz stützte sich hier auf seine langjährige Erfahrung als Chefarzt der Psychotherapeutischen Klinik in Halle, an der er seit 1980 tätig war. In seinen Werken „Die narzißtische Gesellschaft“ (2012) und „Das falsche Leben: Ursachen und Folgen unserer normopathischen Gesellschaft“ (2017) weitete Maaz seine Untersuchungen auf Gesamtdeutschland aus und attestierte dabei – grob zusammengefaßt – einen auf Schuldkomplexen und moralischen Überlegenheitsgefühlen fußenden Hang zum Mitläufer- und Mittätertum, der mit einer drastischen Abwertung abweichender Standpunkte einhergeht. 

In seinem nun neu veröffentlichten Buch „Das gespaltene Land: Ein Psychogramm“ wendet Maaz sein Konzept der Normopathie zur Analyse der politischen und kulturellen Lage Deutschlands im Jahr 2020 an und gelangt dabei zu höchst besorgniserregenden Schlußfolgerungen.

„Eine politische Denunziation und Diffamierung von Kritikern kannte ich bisher nur aus DDR-Zeiten und bin entsetzt über vergleichbare Entwicklungen in der Gegenwart.“ Es sind persönliche Einschübe wie diese, die das vorliegende Buch von seinen Vorgängern unterscheidet. Maaz’ Buch ist daher auch als ein Versuch zu lesen, die eigene Fassungslosigkeit zu rationalisieren und zu verstehen, welche Mechanismen dem sich zunehmend radikalisierenden gesamtgesellschaftlichen Klima zugrunde liegen, dessen Attacken er sich schon selbst ausgesetzt sah. 

Grundlegend unterscheidet Maaz zwischen dem menschlichen Ich und dem Selbst. Das Selbst ist die unveränderliche innere Matrix eines Menschen, das Ergebnis frühkindlicher Prägung und physischer Voraussetzungen. Das Ich ist das aktiv gestaltete Leben eines Menschen in seiner sozialen Umgebung. Frühkindlich erworbene Selbststörungen – bedrohtes, ungeliebtes oder gehemmtes Selbst zum Beispiel – seien das Ergebnis einer mangelhaften Beziehungskultur zwischen Eltern und Kind. 

Diesen Ansatz überträgt Maaz auf Deutschland, um Phänomene wie die „Willkommenskultur“ oder den „Kampf gegen Rechts“ zu erklären. Merkels „Wir schaffen das“-Doktrin ist für ihn Ausdruck eines „normopathischen Größenwahns“ zur „Abwehr einer realen Bedrohung“. Maaz äußert den Verdacht, „daß die Europäer und vorneweg die Deutschen unbewußt gar nicht in Frieden leben möchten und können“, da allgemein bekannt sei, daß die Transformation einer relativ homogenen in eine multikulturelle Gesellschaft nur mit massiven Verwerfungen zu bewerkstelligen sei. 

Kritiker dieser Politik sehen sich einem von Politik, Medien und der sogenannten Zivilgesellschaft getragenen „Kampf gegen Rechts“ ausgesetzt, der dem klassischen Dreiklang aus Stigmatisierung-Diffamierung-Kriminalisierung folgt. Er analysiert den „Mißbrauch der Moralkeule ‘Nazi’“ als Diffamierungsstrategie, mit der deren Träger „eine nicht persönlich verursachte reale Schuld (…) zur Überdeckung verleugneter realer Schuld des eigenen Lebens“ neurotisch kompensierten. Der „Kampf gegen Rechts“ in seiner derzeitigen Ausgestaltung sei im Grunde „mehr Opportunismus als Zivilcourage“.

Normophatie – ein typisch deutsches Phänomen? In der Tat betont Maaz einen dem deutschen Volk immanenten transgenerationalen Hang zum Mitläufertum zur Kompensation eigener Selbststörungen: „Der deutsche Michel war auch gerne Nationalsozialist, glühender Kommunist und ist heute vor allem ein erfolgssüchtiger Narzißt und in der Krise ein militanter Moralist. Mitläufer zu sein ist die beste Kompensation für die Not und Kränkung früher Entfremdung.“ Den Ostdeutschen jedoch attestiert er aufgrund ihrer DDR-Sozialisation eine erhöhte Resilienz gegen den normopathischen Massenwahn im Namen des angeblich Guten und Alternativlosen. Sie hätten es gelernt, politischen Eliten und Staatsmedien zu mißtrauen und zwischen den Zeilen der veröffentlichten Wahrheit zu lesen, was sie aktuell zu „Scouts in der deutschen Krise“ mache.

Im Staatsfernsehen ist Maaz nicht mehr gelitten

Maaz lebt, was er schreibt, und kämpft mit offenem Visier gegen normopathische Auswüchse. Im November 2016 attestierte er der Bundeskanzlerin bei Anne Will eine narzißtische Persönlichkeitsstörung und rechnete in einer bis dahin bei den öffentlich-rechtlichen Staatsmedien nicht gekannten Deutlichkeit mit ihrer Politik ab. Seine Karriere als Gast bei ARD und ZDF war damit wenig überraschend beendet – ein Schicksal, das er mit Henryk M. Broder, Roger Köppel oder Roland Tichy teilt. 

Auch gehörte er zu den Erstunterzeichnern der von der Dresdener Buchhändlerin Susanne Dagen initiierten „Charta 2017“ gegen das teils gewalttätige Vorgehen gegen konservative Verlage bei der Frankfurter Buchmesse. Maaz’ Stil ist eine gewisse Unbedingtheit zu eigen. Hier schreibt ein Mann, der absolut von der Richtigkeit seines Ansatzes überzeugt und dem Selbstzweifel fremd ist. Dennoch – oder gerade deshalb: Seine Analysen tragen wesentlich zum Verständnis vieler langfristiger Entwicklungen und punktueller Phänomene bei und erklären nicht zuletzt, welche verdrängten Bedürfnisse den Ursprung der zunehmenden Spaltung unseres Landes bilden.

Hans-Joachim Maaz: Das gespaltene Land. Ein Psychogramm. Verlag C.H. Beck, München 2020, broschiert, 219 Seiten, 16,95 Euro