Ehepaare spazieren in den Hof, eine Mutter mit Kinderwagen. Eine Frau schiebt einen Rollstuhlfahrer in Position. Alle Bänke um den Spielplatz sind besetzt. Immer mehr Menschen strömen zusammen: eine illegale Kundgebung?

Viele Menschen schauen aus ihren Wohnungen herab in den Innenhof der sechsgeschossigen Plattenbauten, und die unten Stehenden blicken gebannt auf ein Fenster im vierten Stock. Punkt sechs Uhr öffnet sich dieses. Ein Mann mit Zylinder erscheint, lüftet diesen mit einer angedeuteten Verbeugung und heißt die mehr als 100 Anwesenden zum mittlerweile sechsten Balkonkonzert willkommen. Die Menschen klatschen. 

Das Gezwitscher der Vögel verleiht den Melodien eine eigene neue Note.

Plötzlich füllt Musik den Hof. Sie kommt aus einem Lautsprecher neben dem Mann, und da singt dieser bereits mit kräftiger Stimme Operettenmelodien. Kein Zweifel, der Sänger mit dem weißen Schal ist Profi. „Zweiter Tenor im Chor der Semperoper“, raunt eine Frau und handelt sich böse um Ruhe bittende Blicke ein. 

Gezwitscher wird gestattet: Im Hof stehen viele Bäume, und so mischt sich der Gesang der Vögel mit den Operettenmelodien, gibt ihnen eine ganz neue eigene  Note. Ansonsten ist es wie in der Oper: Menschen in Logen und auf hinteren Plätzen. Zu „Ganz ohne Weiber geht die Chose nicht“ schunkeln viele Paare. Als ein Walzer erklingt, trauen sich zwei sogar zu tanzen. Bei einem anderen Lied wird mitgesungen. Bei „Ave Maria“ greifen einige der Zuhörer verstohlen zu Taschentüchern.

Zwei alte Damen gehen ans Klingelschild, sie wollen genau wissen, wie der Mann heißt, der da so wunderbar singt. Ein Ehepaar steckt einen Umschlag in seinen Briefkasten: Ein paar Wünsche für das nächste Konzert oder ein schriftliches Dankeschön? 

„Reich mir zum Abschied noch einmal die Hände“ ist nach einer halben Stunde das letzte Lied. Der Sänger verneigt sich noch einmal, bedankt sich für den Beifall und verspricht das nächste Balkonkonzert für Pfingsten an.