© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Der Patriotismus wächst in der Krise
Italien: Breites Bündnis von Unternehmern und Parteien lehnt sich gegen die Einschränkungen auf
Alessandro Petri

Er faltet in der Hand einige Euro-Scheine. „Seht ihr das? Das ist mein letztes Geld. Am Abend dürfen meine Kinder ihre Pasta nur ohne Soße essen. Wir können uns nicht mehr leisten. Wir haben das Virus überlebt, jetzt tötet uns der Hunger.“ Der Herr, der spricht, ist in seinen Fünzigern, auf seinen Schultern trägt er eine italienische Trikolore. Er ist ein Straßenhändler und demonstriert in Mailand gegen die Corona-Maßnahmen. Zirka 1.000 Verkäufer kamen am letzten Montag auf der zentralen Piazza della Scala zusammen, unter dem Motto „Erlaubt uns zu arbeiten“. Jeder schwenkt eine italienische Flagge und trägt Mundschutz. Slogans gegen die Regierung werden geschrien, die italienische Nationalhymne wird gesungen. Die Stimmung bleibt friedlich, obwohl die Wut spürbar ist.

Dies ist nur einer von vielen Protesten, die seit Anfang Mai in ganz Italien die Corona-Restriktionen angreifen. In der Wirtschaftshauptstadt Mailand finden diese mehrmals pro Woche statt und werden von Netzwerken verschiedener Berufsgruppen angemeldet: Wirte, Gastronomen, Ladenbesitzer, Händler. Der Ausruf ist immer derselbe: „Ohne Arbeit sterben wir!“ 

Obwohl der Lockdown ab Anfang Mai schrittweise abgebaut wird, schaden die in Kraft gebliebenen Einschränkungen den Geschäften sehr – wenn sie sie nicht komplett gefährden. In Läden und Straßenmärkte darf nur eine begrenzte Zahl von Kunden, einige Produkte dürfen gar nicht vertrieben werden; 1,5 Meter Mindestabstand sollen eingehalten werden. „Im Moment öffne ich mein Restaurant nicht, es lohnt sich mit solchen Beschränkungen nicht“, erklärt Alfredo Zini, Sprecher der Protestbewegung der Gastwirte. Die meisten von ihnen fänden sich vor einer schwierigen Entscheidung: „Entweder sofort öffnen und einen Teil des Personals kündigen oder einfach geschlossen bleiben und die staatliche Beihilfe nutzen. Viele Kollegen lassen lieber zu, das bedeutet aber auch, in ein paar Monaten endgültig schließen – das staatliche Geld kommt nicht.“ Die italienische Regierung versprach, 400 Milliarden einzusetzen, doch fast nichts davon habe bis heute die Unternehmer erreicht. Seit März haben Geschäftsleute lediglich einen Bonus von 600 Euro bekommen, „was natürlich bei weitem nicht genügend ist“, sagt Zini. „Wenn wir nicht arbeiten können, benötigen wir entweder mehr Unterstützungsgeld oder eine Befreiung von Gebühren. Sonst wird unsere Branche bald verschwinden.“

Die ewige Spaltung zwischen Nord und Süd

Aus dieser Situation entstehen täglich neue Protestbündnisse. Anders als in Deutschland spielen hier Ideologien, ethische Fragen und Verschwörungstheorien kaum eine Rolle. In Italien sind die Proteste von der Angst vor Hunger getrieben. Die Spontanität und die Heterogenität der betroffenen Interessengruppen hat bis heute eine politische Prägung der Bewegung vermieden. Doch eines ist allen gemein: Auf jeder Kundgebung wehen die Nationalfarben. „Der Patriotismus wächst seit dem Beginn der Pandemie“ sagt Carlo Fidanza, Europaabgeordnete der rechten Partei Fratelli d’Italia, „das zeigt, daß die Menschen trotz der globalistischen Propaganda ein Zusammengehörigkeitsgefühl haben, welches sich im Krisenfall zeigt.“

Fratelli d’Italia hat vielleicht am meisten aus diesem Anwachsen des Patriotismus profitiert. Sie steht in den letzten Umfragen mit 14,5 Prozent nur zwei Punkte hinter der regierenden Fünf-Sterne-Bewegung und fünf Punkte hinter dem ebenfalls regierenden Partito Democratico. An der Spitze steht fortwährend die Lega mit 25 Prozent. Politiker der Lega und der Fratelli d’Italia dürfen, nach Lockerungen, mit den Demonstranten gemeinsam protestieren.

Fidanza marschiert persönlich mit. Trotzdem sieht er die patriotische Stimmung in Gefahr. „Die linke Nationalregierung in Rom versucht ihre Schulden während dieser Krise auf die rechte Lokalregierung der Lombardei zu übertragen. Noch gibt es mehrere Regionalgouverneure vor allem aus dem Süden, die ihre Grenzen für Bürger der Lombardei aus Angst vor dem Virus schließen wollen. Das führt zu einer starken Entfremdung zwischen der Lombardei und dem italienischen Staat sowie zu einer starken Ablehnung der Lombarden im Rest Italiens.“ Die Nord-gegen-Süd-Debatte kommt immer wieder in Italien hoch. Laut Limes, dem renommierten italienischen Magazin für Geopolitik, spielt sie heute sogar eine bedeutende Rolle in den Beziehungen zwischen Italien und Deutschland. „Die Wirtschaft der Lombardei ist nicht nur für Italien wichtig, sondern ein integraler Bestandteil der Wirtschaftskette der Bundesrepublik“, schreibt Chefredakteur Lucio Caracciolo, „das führt zu einem starken deutschen Interesse hinsichtlich der Rettung Norditaliens. (…) Dadurch könnte die Diskrepanz zwischen Norden und Süden sogar verstärkt werden.“

So gesehen entspricht das aktuelle Hilfspaket der EU für Italien einem deutschen Interesse. Trotz dieser Nord-Süd-Spannung wollen Lega und Fratelli die Proteste weiter fördern. Für Juni haben sie gemeinsame Großdemonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen in jeder italienischen Bezirkshauptstadt angekündigt – die größten in Mailand und Rom, unter Teilnahme der Parteichefs Matteo Salvini und Giorgia Meloni. Diese werden die ersten offiziellen politischen Demonstrationen seit dem Beginn der Krise sein und sollen gleichzeitig eine Generalprobe für einen geschlossenen Aufmarsch gegen die Regierung am 4. Juli in Rom sein.