© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Der Bundestag befindet sich in der Zwickmühle
Euro-Krise: Europaausschuß befaßte sich mit Staatsanleiheankäufen / Juristen sehen Probleme bei Umsetzung des Karlsruher EZB-Urteils
Dietrich Vogt

Nicht erfreulich, aber erfreulich beherrschbar – so lautete der Kommentar der meisten Sachverständigen zum EZB-Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BverfG 2 BvR 859/15-Rn. 1-237). Neun Professoren, sechs Juristen und drei Ökonomen hatte der Europaausschuß des Bundestages vorige Woche zu einer Anhörung eingeladen, um die Handlungsoptionen abzuwägen. Worum geht es in dem Urteil? Seit 2015 kaufen die nationalen Zentralbanken und die EZB Staatsanleihen – bislang für etwa 2,3 Billionen Euro.

Zentrale Fragestellungen an Karlsruhe waren die Verhältnismäßigkeitsprüfung angesichts der Niedrigzinsen und Sparerverluste sowie die Prüfung, ob ein Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung vorliegt (JF 20/20). Während das BverfG „eine offensichtliche Umgehung“ des Verbots nicht feststellen wollte, monierte es eine völlig unzureichende Verhältnismäßigkeitsprüfung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem es diese beiden Fragen zur Vorklärung bereits 2017 vorgelegt hatte. Deshalb müsse die EZB innerhalb von drei Monaten diese Prüfung nachvollziehbar nachreichen; anderenfalls sei es der Bundesbank verboten, an dem Programm weiterhin teilzunehmen.

Als Grundtenor sprachen mehrere Sachverständige von einer Kompetenzüberschreitung der Karlsruher Richter. „Das Urteil erscheint mir aus europa- und verfassungsrechtlicher sowie europa- wie verfassungspolitischer Sicht als Kompetenzüberschreitung“, so Franz Mayer (Uni Bielefeld). Diese hätten den Anwendungsvorrang des EU-Rechts vor dem nationalen Recht mißachtet.

Nur der EuGH habe das Recht, eine Überschreitung festzustellen, was dieser 2018 in seiner Antwort auf die Vorlagefragen des deutschen Gerichts aber nicht tat. Zudem könne das Urteil nicht nur in Polen und Ungarn „als Einladung zum Europarechtsbruch“ mißverstanden werden, warnte Mayer. Auch angesichts eines drohenden Vertragsverletzungsverfahrens warnten die Juristen den Bundestag davor, den Konflikt infolge des Urteils weiter eskalieren zu lassen.

Der Ökonom Marcel Fratzscher hob hervor, daß die EZB eine Verhältnismäßigkeitsprüfung in jedem Fall durchführt, wie durch die verschiedenen Stellungnahmen der EZB belegt sei. Bezugnehmend auf die erheblichen Nebenwirkungen hob der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung hervor, daß „jede geldpolitische Entscheidung natürlich Auswirkungen“ auf die gesamte Wirtschaft habe und „eine jede geldpolitische Entscheidung immer und überall Verteilungswirkung“ habe.

Jede Währungsunion birgt finanzielle Risiken

Insofern könne er eine Überschreitung des geldpolitischen Mandats nicht nachvollziehen. Auch sei es die Idee einer Währungsunion, „daß durch eine Risikoteilung alle gemeinsam für ein wirtschaftliches finanzielles Risiko bereitstehen und damit auch diese Risiken reduziert werden. Risikoteilung und Risikoreduzierung sind also zwei Seiten der gleichen Medaille“. Diese Art „Notenbanken-Sozialismus“ konkretisierte Fratzscher für Italien. Zwar habe Italien ein höheres Risiko einer Staatsinsolvenz und Bankenprobleme, jedoch „werden natürlich Risiken geteilt“.

Dirk Meyer wies hingegen auf die historisch belegten Gefahren dieser Politik durch den Zerfall der Lateinischen Münzunion (1865) oder der Kronenzone (1918) hin. Des weiteren belegte der VWL-Professor der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg mit Blick auf das neue, 750 Milliarden Euro schwere Pandemie-Notfallankaufprogramm (PEPP) anhand der vom BVerfG aufgestellten Kriterien in vier Punkten einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung: Weder sei das maximale Volumen verläßlich, noch würden die für die Preisbildung und die Risikokonzentration wichtige Obergrenze von 33 Prozent pro Anleihe einzuhalten sein.

Darüber hinaus würde die EZB griechische Staatsanleihen zulassen und damit wesentliche Bonitätsvorgaben über Bord werfen. Schließlich wäre die EZB nicht mehr an eine Einhaltung des EZB-Kapitalschlüssels gebunden, so daß sie im Notfall nur italienische und griechische Staatsanleihen kaufen könnte, deren Verluste indirekt über die Abführung des Bundesbankgewinns den Bundeshaushalt treffen würden.

Stellvertretend für wohl alle Teilnehmer konstatierte Christian Calliess (FU Berlin), der Bundestag befinde sich „in der Zwickmühle“: Einerseits ist die Unabhängigkeit der EZB und der Bundesbank als Teil des Eurosystems zu achten. Andererseits ist dem BVerfG-Auftrag irgendwie nachzukommen. Der elektronisch zugeschaltete Europaabgeordnete Sven Simon (CDU/EVP-Fraktion) berichtete, daß er die EZB gefragt habe, ob sie darlegen könne, daß ihre geldpolitischen Maßnahmen im Verhältnis zu den Auswirkungen auf die Wirtschaftspolitik stehen würden. Vielleicht ist das eine – wohl eher nur formale – Lösung des Dilemmas?

Detaillierte Informationen zur Sitzung: bundestag.de