© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Digitale Revolutionen stören den Unterricht
Schulbildung braucht viel dringlicher Lerntechniken, die das Verstehen fördern
Oliver Busch

Wozu noch lernen? Warum Wissen speichern, wenn es Suchmaschinen gibt, die mit jeder Auskunft dienen können? Scheinbar rhetorische Fragen, die suggerieren, daß „das Netz“  wirklich alles weiß. Also Schluß mit dem Lernen, das ohnehin sprachlich häufig genug negativ als Einpauken und Eintrichtern besetzt wird und das in den Erinnerungen vieler Schüler wie eine einzige Quälerei auftaucht. 

Wohin eine Gesellschaft steuert, die ihrem Nachwuchs diese Anstrengung ersparen will, indem sie auf „digitales Lernen“ vertraut, darüber handelt das neue Buch von Henning Beck. Im Unterschied zum viel älteren Ulmer Kollegen Manfred Spitzer, der die „digitale Demenz“ prognostiziert, bläst der 1983 geborene, mit Computerspielen aufgewachsene Frankfurter Biochemiker und Neurowissenschaftler allerdings nicht die kulturpessimistisch dröhnende Untergangsposaune, sondern zeigt in unaufgeregter, „cleverer“ (neben „toll“ und „wunderbar“ sein stilistischer Lieblingsausrutscher) Manier die wahrscheinlichsten, den Menschen auf Maschinenniveau reduzierenden Konsequenzen einer Auslagerung des Lernens ins Digitale auf. Dabei leiten ihn die goldenen Worte des Computerpioniers Konrad Zuse: „Die Gefahr, daß der Computer so wird wie der Mensch, ist nicht so groß wie die Gefahr, daß der Mensch so wird wie der Computer.“

Erschütternde Orientierungslosigkeit

Wohin ein Gemeinwesen steuert, „das nichts weiß und alles googeln muß“, erläutert Beck anhand eines Testkatalogs, der seit 1980 als „Goldstandard“ bei der Überprüfung von Lern-, Merk- und Gedächtnisfähigkeit gilt. Als die Fragebögen, die sich am Allgemeinwissen der ersten US-Nachkriegsgenerationen orientierten, 2013 von Erstsemestern der Kentucky State University ausgefüllt wurden, enthüllte sich, was selbst den lockeren Optimisten Beck vom „Niedergang einer gebildeten Gesellschaft“ sprechen läßt. Denn daß Paris die Hauptstadt Frankreichs ist, wußten 1980 noch fast alle Probanden, 2013 machten hier nur 73 Prozent das richtige Kreuz. Klägliche drei Prozent nannten 2013 Budapest als Hauptstadt Ungarns, während 21 Prozent auf Indien tippten. Da überraschte es nicht, daß 60 Prozent den Nil als längsten Fluß Südamerikas bezeichneten, zwölf Prozent glaubten, in Frankreich würde man in Rupien bezahlen oder 29 Prozent die Sonne für den größten Planeten des Sonnensystems hielten.

Wer auf dieses Dokument erschütternder Orientierungslosigkeit mit dem üblichen „Na und?“ reagiere, im stolzen Bewußtsein, alles bei Google rasch nachschlagen zu können, befinde sich im fatalen Irrtum. Denn nur Menschen, die über viel Grundwissen und eine solide Allgemeinbildung verfügten, seien imstande, einerseits leichter neues Wissen aufzunehmen, weil ihre Gehirne besonders gut vernetzt sind, andererseits Falsch- und Desinformationen besser als andere zu erkennen. Damit erweise sich Allgemeinbildung, wie sie keine Suchmaschine vermittle, als wirksamstes Gegenmittel gegen die Manipulation des Menschen, gerade auch gegen politische Propaganda staatlicher wie privater Medien.  

Leider hätten sich Lerntechniken in den letzten Jahrzehnten immer stärker davon entfernt, Allgemeinwissen aufzubauen, das Gewohntes kritisch zu prüfen, den Zusammenhang der Dinge zu verstehen helfe. Statt dessen werde der weltweite Markt für Prüfungsvorbereitungen, dessen Volumen bei 170 Milliarden Dollar liege – allein in Deutschland geben Eltern 900 Millionen Euro für Nachhilfe aus –, vom computergerechten „dummen Lernen“ dominiert, das Verstehen für verzichtbar halte. Ein „Musterschüler“ in dieser Disziplin sei stets Singapur gewesen, mit seinem „vorbildlich“ digitalisierten Bildungssystem, das in den internationalen Testolympiaden und Ranking-Wettkämpfen ein Dauerabonnement auf Spitzenplätze hat. Doch 2018, fast unbemerkt von der westlichen Öffentlichkeit, habe der Stadtstaat eine Wende eingeläutet. Es gehe, wie es der frühere Bildungs- und jetzige Finanzminister Heng Swee Keat wie ein echter Humboldtianer formuliert, nicht länger darum, „schlau zu sein, sondern daß man ein besserer Mensch wird“. 

Natürlich ist solcher Sinneswandel auch ökonomisch bedingt. Denn das in Multiple-choice-Tests abfragbare Viertelwissen herkömmlicher Lernkonzepte, ausgerichtet auf feste Berufsbilder und sichere Karrieren in Banken und Verwaltung, garantiert dauerhaft keine Vorteile im internationalen Wettbewerb. Die könnten nur mit einem Bildungssystem erzielt werden, das verstehendes, kreatives und Zusammenhänge erschließendes Lernen fördere. Und gerade da gebe es Nachholbedarf, denn wie alle ostasiatischen Länder stehe Singapur zwar immer weit oben auf den Pisa-Ranglisten, schneide hingegen schlecht ab in den Rankings für kreatives Unternehmertum und Innovationsfähigkeit. 

Ob diese Botschaft aus Fernost in der Bundesrepublik schon angekommen ist, wo Schul- und Bildungspolitiker gerade die neueste Reform-Sau, die „Digitalisierung des Klassenzimmers“, durchs Dorf treiben? Erkennbar ist das für Beck nicht. Der Enthusiasmus für digitale Technologien im Unterricht sei gerade bei praxisfernen „Bildungsbeamten in Schulämtern“ ungebrochen, obwohl neuere Studien zeigten, daß deren positive Effekte gering seien und sie nicht grundlegende Prinzipien des Lernens und Verstehens revolutionierten. Kurz gesagt: „Ein gut eingesetztes Schulbuch bringt mehr als eine durchschnittliche Lern-App.“

Henning Beck: Das neue Lernen heißt Verstehen. Ullstein Buchverlage, Berlin 2020, gebunden, 266 Seiten, 19,99 Euro