© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Bestrafung durch Hunger
US-amerikanische „Rheinwiesenlager“ für „entwaffnete Feinde“: Grausamer Auftakt der Reeducation
Dag Krienen

Die Ansprache des Bundespräsidenten zum 8. Mai 1945 versuchte einmal mehr, den Zuhörern brachial einzuhämmern, daß an diesem Tag alle Deutschen – und nicht nur die überlebenden wirklichen Opfer der NS-Diktatur – befreit worden seien. Diese Deutung des 8. Mai steht jedoch im Gegensatz nicht nur zu den historischen Tatsachen, sondern auch zu den Erinnerungen an die Verbrechen der „Befreier“ bei ihrer für die Deutschen doch angeblich so segensreichen Mission. 

Dies gilt auch im Falle der USA, jenem Kriegsgegner, zu dem die Deutschen nach 1945 am schnellsten und mit einer gewissen Berechtigung eine positive Einstellung entwickelten. Doch war insbesondere im deutschen Südwesten noch lange auch die Erinnerung an die grausame Behandlung der deutschen Kriegsgefangenen in den sogenannten „Rheinwiesenlagern“ im Sommer 1945 virulent. 

Von April bis Juni 1945 legten die US-Truppen im Rheingebiet rund zwei Dutzend temporäre Kriegsgefangenenlager („Prisoner of War Temporary Enclosures“) an. Im Frühjahr 1945 wurden fast zwei Millionen deutsche Kriegs- und Kapitulationsgefangene, Angehörige des Volkssturms, Hitlerjungen und Wehrmachtshelferinnen sowie in „automatischen Arrest“ genommene NS-Funktionäre, höhere Beamte und andere Zivilisten in diese „Umzäunungen“ verfrachtet. In den auf bloßen Ackerflächen angelegten Riesenlagern mit teilweise je über 100.000 Insassen, eingeteilt in je zehn bis zwanzig mit Stacheldraht umgebene „Cages“, gab es praktisch keine Unterkünfte und weder eine nennenswerte sanitäre noch medizinische Infrastruktur. 

Bereits in den nach der Invasion im Spätsommer 1944 errichteten Durchgangslagern der US-Armee in Westeuropa herrschten im Unterschied zu der in der Regel bis zum 8. Mai korrekten Behandlung der Kriegsgefangenen in den USA schon schlechte Bedingungen, in den Rheinwiesenlagern waren sie mehr als katastrophal. Auf engstem Raum wochenlang zusammengepfercht und unter desolaten hygienischen Verhältnissen, blieben die Insassen, die zuvor alle Ausrüstungsgegenstände hatten abgeben müssen, auf freiem Feld in mit bloßen Händen selbst gegrabenen Erdlöchern hausend, sich selbst überlassen. In der ersten Zeit wurden sie praktisch gar nicht und später nur sporadisch und völlig unzureichend mit Lebensmitteln versorgt (JF 28/13, JF 47/18).

Einschüchterung der wehrlosen Kriegsgegner

Krankheiten und Hunger ließen so noch nach Kriegsende viele Deutsche in amerikanischem „Gewahrsam“ einen elenden Tod sterben. Die offiziellen Angaben des US-Militärs und auch die später von deutschen Stellen ermittelten Zahlen bewegen sich zunächst in der Größenordnung von 5.000 bis 10.000 Toten. Im Jahre 1989 stellte der kanadische Journalist James Bacque in seinem Buch „Der geplante Tod“ die Behauptung auf, daß bis zu 700.000 Gefangene in US-amerikanischen und weitere 400.000 in französischen Lagern umgekommen seien. Das Buch löste hektische Aktivitäten zu seiner Widerlegung aus. Bundesdeutsche Historiker taten ihr Möglichstes, um die Todeszahlen nicht über 10.000 hinauswachsen zu lassen. Angelsächsische Historiker räumten teilweise ein, daß es bis zu 40.000 Tote in den Lagern gegeben haben könnte (Interview mit dem britische Historiker Giles MacDonogh in JF 17/08). Die tatsächliche Anzahl der Toten wird sich wohl nie genau ermitteln lassen. Es waren keine Millionen oder Hunderttausende, die in den Rheinwiesenlagern starben, aber doch weit über zehntausend Menschen. 

Die Frage nach der Zahl der Todesopfer sollte indes nicht von der eigentlichen Funktion der Rheinwiesenlager ablenken, die sie 1945 im Rahmen der amerikanischen Politik im besiegten Deutschland besaßen. Der Verfasser hat schon vor knapp zehn Jahren in dieser Zeitung das Schicksal der deutschen Kriegsgefangenen in US-amerikanischem Gewahrsam (JF 3/11) geschildert und dabei eine These aufgestellt, die ihm auch heute noch plausibel erscheint: Die Festsetzung aller deutschen Soldaten und „verdächtigen“ Deutschen, der die Amerikaner habhaft werden konnten, in den Rheinwiesenlagern diente – ähnlich wie zuvor die militärisch völlig sinnlosen Luftangriffe  kurz vor Kriegsende auf Städte wie Bayreuth, Hanau, Nordhausen, Pforzheim und Würzburg vor allem dem Zweck der Einschüchterung der wehrlosen Kriegsgegner, und zwar als Auftakt zur Umerziehung der Deutschen. Tote wurden dabei auch nach Kriegsende als Kollateralschäden in Kauf genommen. Es ging darum, die Deutschen in einen mentalen Schockzustand zu versetzen, der sie für eine umfassende „Rekonstitution“ ihres vermeintlich militaristischen Charakters empfänglich machte.

Die US-Besatzungsdirektive JCS 1067 von 1945 verfolgte das Ziel, allen Deutschen eine harte, demütigende erste Lektion zu erteilen – und zwar durch „Hungern und Frieren“. Über diese Politik herrschte in amerikanischen Regierungskreisen 1945 Konsens. Sie sollte den Besiegten – wie bei einer individuellen Gehirnwäsche – ihre totale Ohnmacht, ihr vollständiges Ausgeliefertsein an den Siegerwillen vor Augen führen und jedweden kollektiven Selbstbehauptungswillen brechen. Dies galt insbesondere für die wichtigsten potentiellen Träger von Widerspenstigkeit, die Männer im aktiven Alter und mit soldatischer Erfahrung. In den Rheinwiesenlagern mußten deshalb alle greifbaren deutschen Uniformträger, die dort bewußt von den Angehörigen ihrer alten Einheiten (als einer potentiellen Solidargruppe) getrennt wurden, die schockartige Erfahrung der totalen Entwürdigung sowie der Entsolidarisierung durch Hunger und Verelendung machen. 

Der US-Oberbefehlshaber Dwight D. Eisenhower hatte zudem am 4. Mai 1945 befohlen, alle von nun an gefangengenommenen Deutschen nicht länger als Kriegsgefangene, sondern als „Disarmed Enemy Forces“ (DEF) zu behandeln, die sich nicht mehr auf den Schutz der Genfer Konvention berufen konnten. Dadurch entzogen sich die Amerikaner nicht nur der Kontrolle des Roten Kreuzes, sondern entledigten sich auch der Verantwortung für eine halbwegs geordnete Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung.

Amerikanische und deutsche Forscher erklären die durchaus eingestandenen entsetzlichen Verhältnisse in den Lagern meist mit den herrschenden Umständen wie Nahrungsmittelknappheit, unfähiger Bürokratie, mangelnder Vorbereitung auf so große Zahlen etc. Einen gewissen Anteil am Lagerelend hatten diese Faktoren vor Kriegsende zweifellos. Es war aber von Anfang an absehbar, daß in den provisorischen Gefangenen-„Umzäunungen“ eine auch nur minimale medizinische, sanitäre und nahrungsmäßige Versorgung sehr großer Massen kaum möglich war. Die USA vergrößerten jedoch die Menge der Gefangenen durch die Festsetzung aller „Disarmed Enemy Forces“ und „automatic arrest“ immens, statt durch eine – zumindest nach Kriegsende – sofortige Entlassung der von Anfang an erkennbar ungefährlichen Kategorien von Gefangenen ihre Zahl zu reduzieren.

Bis September 1945 wurden die Lager wieder aufgelöst

Das Argument, daß die Besatzungsmächte dies aus Gründen der Sicherheit der eigenen Truppen nicht riskieren konnten, ist fadenscheinig. Die sechs bis acht Wochen, in denen die meisten Gefangenen in den Rheinwiesenlagern leben mußten, bevor sie dann doch entlassen oder Briten und Franzosen als Zwangsarbeiter ausgeliefert wurden, waren für ein „Screening“ weitaus zu kurz und reichten oft nicht einmal zur Erfassung auch nur ihrer Namen aus.

Die meisten Rheinwiesenlager existierten nicht lange. Es kam auf den kurzen, brutalen Schock an, nicht auf die Verstetigung des Elends. Seit Ende Juni 1945 wurden neben den Alten und sehr Jungen auch die Angehörigen von für die Versorgungswirtschaft wichtigen Berufen entlassen, ab August auch die Masse der übrigen Gefangenen. Bis Ende September waren die meisten Lager wieder aufgelöst oder samt den zur Zwangsarbeit verdammten Insassen an Briten und Franzosen übergeben worden. Als erster grausamer Schritt auf dem Weg zur „demokratischen Umerziehung“ der Deutschen hatten sie ihren Zweck erfüllt.

Die Demokratisierung Deutschlands gilt als große Nachkriegserrungenschaft. Der Beitrag der alliierten „Reeducation“ dazu wird hoch und manchmal auch überbewertet. Die Erinnerung an diese „Umerziehung“ verbindet sich heute meist mit dem Bild strenger, aber doch wohlwollender britischer und amerikanischer Lehrer. 

An ihrem Anfang jedoch standen bewußte Akte brutaler und rücksichtsloser Demütigung der Besiegten durch die Sieger, aber nichts, was als „Befreiung der Deutschen“ bezeichnet werden kann. Die bewußte Anerkennung der demokratischen Errungenschaften Deutschlands seit 1945 ist auf der Basis dieser Erkenntnis vielleicht nicht schmerzloser, aber doch ehrlicher und fester verankert, als durch die bequeme Einstellung, sich als „Befreiter“ einfach zum „Mitsieger“ am 8. Mai 1945 zu erklären.