© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Ist die Kassette zurückgespult?
Mit den letzten Videotheken sterben einige Erscheinungen der Popkultur
Gil Barkei

Die hohen hölzernen Regalwände sind abgebaut, statt dessen kann man durch die großen, halb abgeklebten Schaufensterscheiben zahlreiche Fernsehbildschirme sehen, auf denen verschiedene Fußballspiele laufen. Das große Firmenlogo der Videotheken-Kette über dem Eingang ist dem einer Sportwetten-Kette gewichen. In einer anderen einstigen Filiale befindet sich nun eine Tierarztpraxis, eine weitere ist einem Neubauvorhaben für Eigentumswohnungen in der Hauptstadt gewichen. 

Angesichts von Youtube und Streamingportalen sterben die letzten Videotheken. Gab es im Jahr 1983 ganze 4.300 und 2007 immerhin über 3.000 Filialen, waren es zehn Jahre später nur noch 600. Von einem der früheren Marktführer, Video World, gibt es in Berlin und Brandenburg gerade mal noch drei Läden. Anstatt sich durch die Rückseiten der Videohüllen zu kämpfen und inspirieren zu lassen, klickt man sich heute durch die Kurzbeschreibungen von Filmen und Serien bei Netflix, Amazon und Co.

Dabei feiert die älteste Videothek der Welt dieses Jahr ihren 45. Geburtstag. Sie steht nicht, wie die meisten wahrscheinlich denken, in den Vereinigten Staaten, sondern in Kassel. 1975 eröffnete Eckhard Baum seinen „Film-Shop“, damals noch auf 8- und 16-mm-Filme spezialisiert. Seit 2017 wird er von dem Filmenthusiasten-Verein „Randfilm“ fortgeführt und beheimatet seit 2018 das Deutsche Videothekenmuseum – das weltweit erste.

Mit den letzten Verleihstätten, die das sogenannte „Home-Entertainment“ begründeten, verschwinden auch klassische Beobachtungen der Popkultur der achtziger, neunziger und nuller Jahre endgültig im Reich der Nostalgie und Jugenderinnerungen: die Ermahnung, die Videokassette auch ja zurückzuspulen, in Plastik eingeschweißte Mitgliedsausweise, der Alterscheck (wenn er denn stattfand), der prüfende Blick des Mitarbeiters, ob Computerspiele oder DVDs zerkratzt sind, die turtelnden Pärchen vor der Rückgabe und die verstohlenen Blicke einsamer Herren oder kichernder Teeniegruppen beim Verlassen der sichtgeschützten XXX-Bereiche, deren Schiebetüren aller Diskretion spottend, grundsätzlich am Rand des zentral gelegenen Kassenbereichs zu liegen schienen. 

Vor den Kassen stauten sich Freitag- und Samstagabend die Schlangen, wurden seltene Autorenfilme, Hollywood-Blockbuster und fast verbotene Horrorschocker neben ausgefallenen Chips- und Biersorten verstaut. Videotheken waren wie Tankstellen die Snackbars für spätere Stunden, und gerade zu ihrer Hochzeit waren manche Naschexoten, wie XXL-Eiscremebecher oder einige Alkopops, nur bei ihnen erhältlich. 

Auch deshalb gehörten sie zur breiten Palette möglicher Wochenendvorhaben. Der Video- und später der DVD-Abend wurde zum Codewort einer ganzen Generation für die ersten mehr oder weniger romantischen Abenteuer in der Pubertät. Und zum Zeichen des Wohlstands: einst galten die jeweiligen Rekorder und Abspielgeräte wie die ersten Kaufkassetten als sündhaft teure Statussymbole, heute sind sie reif fürs Museum. Obwohl sie in vielen Haushalten noch schlummern dürften: die Filmsammlungen, aufwendig überspielte Raubkopien und die unbezahlbaren Privataufnahmen; das erste Fußballspiel im Verein, die eigene Schulabschlußfeier, der runde Geburtstag der Großeltern, die Gartenparty mit den Freunden, die man mit der vom Vater ausgeliehenen Videokamera aufgenommen hat. 

Der DVD-Abend als Code einer ganzen Generation

Super 8, Betamax, Video 2000, VHS, DVD, BluRay: an der Befüllung der Videothekenregale ließen sich die technische Evolution der Unterhaltungselektronik und die „Formatekriege“ der großen Konzerne nacherzählen. Die Leihspiele für die Konsolen – Nintendo, Xbox, Playstation 1 bis 4 – zeigten zudem die Entwicklung immer realistischer werdender Grafiken und einer Branche, die heute mit E-Sports-Turnieren die Sportwelt auf den Kopf stellt und mit manchen Games-Titeln mehr erwirtschaftet als so manche Hollywood-Produktion. 

Selbst Streaming-Ikone Netflix startete 1997 als Online-Videothek, über die sich Abonnenten Filme per Post schicken ließen. Einst brachten Filmverleihe günstigere B-Movies auf Kassette heraus, später drehten Studios extra Filme für den Videomarkt (Direct-to-Video-Productions) – beides führte zu einem Aufschwung von Kreativität und Experimentierfreude. Heute beleben die exklusiven Eigenproduktionen der Video-auf-Abruf-Dienste erneut die Filmbranche und sind vielfach zu Sinnbildern neuartiger Ansätze bei Dramaturgie, Kameratechnik und Charakterzeichnung geworden.