© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 24/20 / 05. Juni 2020

Der Flaneur
Als Kind beim Zigarettenkauf
Maria Bentz

Wächserne Leichname, schwarze Zahnkrater, bleiche Gesichter in blutbespuckten Tüchern, offene Beine, dunkle Eingeweideklumpen: in Reih und Glied hinter der Kasse aufgestellt drohen sie schweigend, die Bildchen-Soldaten der Anti-Rauch-Miliz – durch meine maskenbedingt beschlagene Brille nur verschwommen wahrnehmbar. 

Aber ich tauge als Nichtraucher ohnehin nicht zum Belehrobjekt. Dazu trennendes Plexiglas, maskierte Menschen auf Abstand: Krankheit und der vermeintliche Tod allgegenwärtig beim Einkauf im Jahr 2020. 

Aber die Gedanken sind frei und schweifen in die Vergangenheit: „Töchterchen“, ruft es da. „Hast du ein bißchen Zeit?“ „Aber klar!“ 

Solche Anrede verspricht einen heiß geliebten Auftrag. Ich stürze in Vaters Büro, damals schon ein „Home-Office“, nur ein Telefon verbindet mit der Welt. Eine D-Mark-Münze landet in meiner Hand, hinab geht’s im Großstadtaltbau die zahllosen Stufen aus dem vierten Stock, lautlos auf Zehenspitzen gilt es im ersten Stock die böse Alte zu umschleichen, hinaus auf die Straße, dann noch ein paar Schritte: der Automat.

Das Wechselgeld wurde beim Tante-Emma-Laden in Naschwerk investiert.

Die Mark verschwindet im Schlitz und heraus poltert eine Schachtel Roth-Händle. In ihrer Cellophanhülle der heißersehnte Lohn: das Wechselgeld, ein 10-Pfennig-Stück. 

Ein paar Schritte noch bis zu Seiler’s, dem Tante-Seiler-Laden, im Notfall darf man immer klingeln. Jetzt ist er offen. „Na, Kleene“, die freundliche Begrüßung. „Ein Mohrenkopf wie immer?“ Strahlendes Nicken. Vorsichtig wird der süße Traum auf der flachen Handfläche balanciert, es gilt, die Schokolade über dem Zuckerschaum nicht vor dem Erreichen der Wohnung zum Schmelzen zu bringen.

„Zwölf Euro fünf.“ Die hohl klingende Stimme reißt mich ins Heute. „Bar?“ Mit spitzen Fingern, soweit das behandschuht möglich ist, wird mein Geld entgegengenommen. Draußen fallen die Masken, Gesichter tauchen auf. Aber sie strahlen nicht. O selig, ein Kind noch zu sein.