© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Neue Entfremdung an Oder und Neiße
Corona-Maßnahmen: In der schlesischen Grenzregion beginnt man, den Nachbarn zu vergessen / Kleine Übergänge weiterhin geschlossen
Paul Leonhard

Die Görlitzer lehnen am Brückengeländer und schauen sehnsüchtig nach Osten. Während sich über das deutsche Neißeufer bereits der Schatten der sich zurückziehenden Sonne ausbreitet, liegen die Biergärten auf der andere Seite in der warmen Abendsonne. Einen Steinwurf entfernt steht polnisches Lech und tschechisches Pilsner auf den Tischen, und doch ist beides vorerst unerreichbar. Seit dem 15. März ist die Grenze geschlossen. 

Das machen ein Drahtgitterzaun und vor allem die mit Maschinenpistolen bewaffneten Grenzsoldaten deutlich. Die Altstadtbrücke, eine Fußgängerbrücke in der Altstadt, war an der Stelle eines im Mai 1945 gesprengten Vorgängerbaus mit deutschem Geld neu errichtet worden, damit sich die Menschen beider Stadtteile näherkommen können. Schließlich führt die niederschlesische  Stadt den inoffiziellen Namen einer Europastadt. Von diesem Kunstgebilde Görlitz/Zgorzelec ist gegenwärtig aber wenig zu spüren. 

Frühere Errungenschaften werden aufs Spiel gesetzt

Es ist, als hätte das offiziell hochgelobte, verbindende Deutsch-Polnische mit der Grenzschließung aufgehört zu existieren. Die Sprachkurse sind ausgesetzt, die gemeinsame Stadtratssitzung auf unbestimmte Zeit verschoben, die Sommerfeste wie alles Bilaterale abgesagt. Daß immerhin die Polizei bei der Verbrechensbekämpfung noch grenzüberschreitend kooperiert, beweisen an diesem Tag Polizeitaucher, die im Grenzfluß nach Diebesgut suchen. Denn auch die polnischen Kriminellen müssen sich neu orientieren, seitdem alle Übergänge, ob offen oder geschlossen, streng kontrolliert werden.  

Lediglich über den nahen Autobahngrenzübergang fließt oder staut sich – ins deutsche Landesinnere – der Verkehr. Vor dem Osterfest und zu Christi Himmelfahrt kontrollierte die polnische Grenzpolizei derart gründlich, daß die Autofahrer den Weg über die innerstädtische Stadtbrücke suchten und prompt die Innenstadt verstopften. Empörte Briefe der beiden Bürgermeister nach Warschau verhinderten eine Wiederholung zu Pfingsten, lassen aber für Fronleichnam an diesem Donnerstag wieder Schlimmes befürchten. 

In Slubice forderte Bürgermeister Mariusz Olejniczak in einem Brief an den Woiewoden, den Grenzübergang auch für Berufspendler zu schließen, da die Schlangen und die vielen Durchreisenden die Ansteckungsgefahr in der Stadt erhöhen würden.

Ähnlich wie in Frankfurt oder Görlitz ist die Situation an allen 29 offiziellen Übergängen entlang der Oder-Neiße-Grenze. Wo Autobahnen die beiden Länder verbinden, werden kilometerlange Staus gemeldet, weil bei allen Fahrzeuginsassen die Körpertemperatur gemessen wird. Die kleinen Grenzübergänge dagegen sind, sehr zum Leidwesen der Anwohner, komplett geschlossen. Weitgehende Normalität herrscht lediglich an den Eisenbahnübergängen. 

Auf deutscher Seite sind sich inzwischen Politiker aller Parteien weitgehend einig, daß die polnische Seite im Grenzregime jegliches Fingerspitzengefühl verloren hat, und alle sehnen den Tag herbei, an dem die PiS-Regierung wieder statt nach Corona-Infizierten nach Kriminellen und verkehrsuntüchtigen Sattelschleppern suchen läßt. Vor einem „dauerhaften Schaden in den Beziehungen unserer Länder“ warnt Grünen-Politiker Manuel Sarrazin, Vorsitzender der deutsch-polnischen Parlamentariergruppe im Bundestag, in einem Schreiben an Bundeskanzlerin Angela Merkel und den polnischen Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki: „Die geschlossene deutsch-polnische Grenze führt nicht nur in den Grenzregionen zu einer neuen Entfremdung, zum Abriß von persönlichen Beziehungen, zu Problemen beim Arbeitsweg und zu Schwierigkeiten in der Lieferkette.“ An der Ostsee ist es es vor allem die polnische Tourismusindustrie, die auf Warschau Druck macht, die Grenzen für deutsche Urlauber zu öffnen. Mehrfach gab es bereits Proteste an den Grenzübergängen.

Es sei „schmerzhaft zu sehen“, wie Errungenschaften der Vergangenheit „aufs Spiel gesetzt werden“, schrieb bereits zu Ostern der Ärztliche Direktor des Askle-

pios-Klinikums Uckermark in Schwedt an Merkel und den polnischen Präsidenten Andrzej Duda: „Wir befürchten, daß die mühsam erreichte Annäherung und das gute nachbarschaftliche Zusammenleben durch neue Grenzziehungen beeinträchtigt oder langfristig sogar zerstört werden könnte.“ 

Nie ist so deutlich geworden, daß, allen Städtepartnerschaften zum Trotz, die polnischen und die deutschen Bürger von Frankfurt-Slubice, Guben-Gubin, Küstrin-Kostrzyn, Forst, Bad Muskau, Görlitz-Zgorzelec und all der anderen durch Oder und Neiße geteilten Orte zwar in einer Stadt leben mögen, aber in zwei völlig verschiedenen Staaten. 

Die polnischen Sonderregelungen für die Einreise führen alle möglichen Personengruppen auf, aber nicht die am anderen Flußufer lebenden Menschen, die nur mal schnell bei der Verwandtschaft, bei Freunden, beim Hausarzt, beim Friseur, an der Tankstelle oder beim Zigarettenhändler vorbeischauen wollen. 

Während das Frankfurter Stadtmarketing wenigstens noch ein zweisprachiges Banner „Im Herzen vereint und gemeinsam stark. Wir sehen uns bald wieder“ ans Brückengeländer gehängt hat, ignorieren in Görlitz Stadtverwaltung wie auch die für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Tourismus zuständige GmbH die selbstgewählte Bezeichnung „Europastadt Görlitz/Zgorzelec“  und agieren, als gebe es keine Oststadt. Den Einwohnern fällt das nicht auf, im Gegensatz zur Frankfurter Oderpromenade gibt es am Neißeufer auch kein bemaltes Laken mit der polnischen Aufschrift „Wir vermissen euch“. Wenn die Görlitzer etwas vermissen, dann das preiswertere Bier und den abendlichen Sonnenschein am Ostufer, aber die polnischen Menschen jenseits der Neiße?

 „Wir gehen auch davon aus, daß es möglich sein wird, nach dem 15. Juni Grenzen zu öffnen“, nannte Entwicklungsministerin Jadwiga Emilewicz der Wirtschaftszeitung Puls Biznesu als erstes polnisches Regierungsmitglied einen konkreten Termin. Damit nutzt es beispielsweise den Einwohnern der im Dreiländereck gelegenen sächsischen Stadt Zittau nur wenig, daß Prag die Grenzen geöffnet hat: Von Tschechien trennt sie ein wenige hundert Meter breiter Streifen polnischen Gebietes. 

Unterdessen bestätigte die Polizeidirektion Görlitz, daß seit der Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen in Tschechien die Grenzkriminalität, die mit der Schließung der Grenzen deutlich zurückgegangen war, nun wieder zugenommen hat.