© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Ein Faustkampf mit Atomraketen im Rücken
China und Indien: Die asiatischen Riesen sind sich über kaum einen Teil ihrer über 3.000 Kilometer langen Grenze einig
Marc Zoellner

Diese Schlacht lief noch einmal glimpflich ab: Von keinem einzigen Toten und lediglich elf Verletzten hatten die Medien in Peking und Neu-Delhi zu berichten, kurz nachdem sich Truppenteile der beiden atomar gerüsteten Großmächte Indien und China Anfang Mai erbitterte Gefechte an der Grenze des indischen Bundesstaats Sikkim geliefert hatten. Verwunderlich – denn schließlich investieren die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Erde nicht nur in zwei beachtliche Militärhaushalte. China und Indien bedrohen einander seit spätestens 1974 mit offensiv ausgerichteten Nuklearsprengkörpern.

Die Wahl der Waffen verlief vor gut vier Wochen trotz alledem höchst unkonventionell: „Beide Seiten verhielten sich aggressiv, doch die Verletzungen blieben gering“, erklärte der indische Armeesprecher Mandeep Hooda im Anschluß an die Schlacht. „Es wurden aber nur Steine geworfen und Beleidigungen ausgetauscht, die in Faustkämpfen endeten.“

Zu ihrer eigenen Sicherheit waren beide Truppenteile unbewaffnet an die höchst umstrittene Grenze gesandt worden, um die jeweiligen Standpunkte ihrer Länder zu vertreten. Sowohl in Peking als auch in Neu-Delhi hatten die Regierungen bereits Provokationen der Gegenseite vorausgeahnt, die wieder mal in einer Eskalation des Langzeitkonflikts hätten münden können: Immerhin streiten sich beide um gleich dreiundzwanzig lange und weniger lange Abschnitte ihrer gemeinsamen Grenze, die mit 3.400 bis 3.500 Kilometern Länge – je nach indischer oder chinesischer Deutung – zu den längsten Grenzlinien der Welt gehört.

Allein Kaschmir bildet ein Pulverfaß

Eskaliert waren diese Streitigkeiten zuletzt im Oktober 1962. Ein offener Krieg drohte, der mit dem Einmarsch von gut 80.000 Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsarmee (VBA) in den Norden Indiens begann. Nach gut einem Monat hatte Peking die indischen Armeekontingente von 12.000 Mann damals vernichtend schlagen können – allerdings: an der bis dahin herrschenden Grenzziehung änderte das wenig.

Die Wurzeln liegen tiefer. Im März 1914 – am Vorabend des Ersten Weltkriegs –, als China noch ein Kaiserreich und der indische Subkontinent Teil des britischen Kolonialimperiums war, vereinbarten Vertreter Chinas, Tibets und Großbritanniens auf der Konferenz von Shimla unter anderem die Autonomie des „inneren Tibet“. Weiter unterzeichneten der britische Chefunterhändler Sir Henry McMahon und sein tibetischer Amtskollege eine Erklärung über den künftigen Grenzverlauf Tibets zu Britisch-Indien, welcher sich an der Gipfelkette des Himalaya orientieren sollte.

Diese „McMahon-Linie“ ist bis heute die faktische Grenze Chinas zu Indien. Doch ebenso bis zum heutigen Tag moniert Peking, als Teil des chinesischen Staatsgebiets hätte Tibet zu keiner Zeit souveräne Auslandsverträge abschließen dürfen – und erst recht nicht über den Verlauf chinesischer Grenzen.

Doch damit nicht genug. Die Liste der umstrittenen Grenzgebiete umfaßt allein in der dreifach beanspruchten Region Kaschmir – auch Pakistan sieht das Gebiet als sein eigen an – ganze zehn Konfliktherde in dem indischen Territorium Ladakh und den Bundesstaaten Himachal Pradesh und Uttarakhand. Dreitausend Kilometer weiter östlich, von Kaschmir durch Nepal und Bhutan getrennt, wird mit Arunachal Pradesh gleich ein kompletter indischer Bundesstaat – doppelt so groß wie Niedersachsen – von China beansprucht; ein immenses Terrain, welches allerdings von rund anderthalb Millionen Angehörigen mehrheitlich indigener Völkerschaften besiedelt wird. Mit Sikkim kam seit den Gefechten vom 5. Mai ein 24. Konfliktschauplatz zur Liste hinzu.

Jeder Straßenbau ist ein ungeheures Politikum 

Wie paradox die chinesisch-indischen Grenzstreitigkeiten tatsächlich sind, verdeutlicht das Beispiel der Siedlung Demchok im geteilten Ladakh: Im nach dem Krieg von 1962 geteilten, über 4.000 Meter hoch liegenden Dorf leben auf indischer Seite gut 80 Menschen abgeschieden in bitterster Armut. Im chinesischen Teil sind zwei Häuser bewohnt; zuzüglich zu rund 1.000 Soldaten der Volksbefreiungsarmee, die überwachen sollen, daß sich kein indischer Bauarbeiter auf chinesisch kontrollierte Talhänge verirrt.

Der Anschluß des Dorfes an das Verkehrsnetz Indiens wird von Peking aus strategischen Gründen strikt abgelehnt. Denn während Indien in den fruchtbaren Tälern Kaschmirs westlich von Demchok große Armeeverbände stationiert hält (um Pakistan im Konflikt um Kaschmir abzuschrecken), hindert das riesige tibetische Hochland die VBA an einem raschen Vorstoß in Richtung Demchok.

Überlegungen wie diese lassen den Straßenbau auf beiden Seiten in den umstrittenen Gebieten hochpolitisch werden. Im Juni 2017 fiel selbst das Himalaya-Königreich Bhutan (dessen nördliche Gebiete übrigens auch von China beansprucht werden) dem Konflikt der Großmächte zum Opfer: Chinesische Truppen drangen damals in bhutanisches Territorium vor, um eine Straße zu errichten. Auf Bitten des kleinen Landes kommandierte Neu-Delhi daraufhin Hunderte Soldaten ab, um die Arbeiter zu vertreiben. Auch dieser Konflikt schwelt bis heute weiter.

Genauso war im aktuellen Streitfall von Sikkim der Straßenbau Auslöser der Gefechte. Auf 4.600 Metern Höhe befindet sich dort ein Paß, den die VBA befestigen sollte. Mit dem militärischen Schutzbedürfnis seines Seidenstraßenprojekts liegen Chinas Motive nach Ausbreitung im Himalaya auf der Hand.

Überdies benötigt Peking für seine eigenen wasserarmen Regionen im Westen dringend immense Ressourcen, wie die des Flusses Brahmaputra, der als Tsangpo das tibetische Hochland durchquert, bevor er, den umstrittenen Bundesstaat Arunachal Pradesh durchquerend, nach Indien und Bangladesch strömt.

Doch auch die letzteren beiden Staaten sind auf dieses Wasservorkommen angewiesen. Rückhalt in Territorialfragen kann Indien dabei jedoch nur von einer Handvoll Verbündeter erwarten; allen voran die USA, die selbst in einen Handelskonflikt mit Peking verstrickt sind. 

China indessen wirft gezielt seine Finanzstärke in den Ring, um im Zuge seiner „Perlenkettenstrategie“ mit gewünschtem Erfolg ein indisches Nachbarland nach dem anderen von Neu-Delhi zu entfremden: mit Pakistan und Myanmar als langjährigen Verbündeten der Kommunistischen Partei Chinas sowie Nepal und Sri Lanka als den jüngsten der Großmacht loyalen Handels- und außenpolitischen Partnern.