© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Corona und die kurze Rückkehr der Muße
Unwillkommene Auferstehung
(dg)

Kurz bevor das Coronavirus auch Österreichs öffentliches Leben auf Null stellte, trafen sich in Feldkirch ein paar Kulturschaffende, um eine Trauerfeier abzuhalten. Verabschiedet wurden „die Gewißheiten, die Privatsphäre und die Muße“. Inzwischen erlebten die drei im hektischen Leben unter die Räder gekommenen Verblichenen eine ebenso unerwartete wie unwillkommene Auferstehung. Das Diktat von Ausgangssperren beendete plötzlich die Gewißheiten „revolutionierende“, den kapitalistischen Alltag prägende „ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände“ (Karl Marx). Auch die strikte Wahrung der Privatsphäre wurde nicht nur empfohlen, sondern nun geradezu erzwungen. Und Muße gab es sowieso überreichlich. Für den Wiener Kulturwissenschaftler Thomas Macho, bekannt geworden mit Betrachtungen über den Suizid in der Moderne (2017), bleibt die Frage indes offen, ob diese Pandemie-Erfahrungen zur dauerhaften Entschleunigung des rastlosen westlichen Lebensstils führen werdee (Hohe Luft, 4/2020). Macho, der in Feldkirch den Nachruf auf die Muße hielt, bleibt skeptisch, ob die alten Leitbilder des Fortschritts und des unbegrenzten ökonomischen Wachstums durch ein Virus außer Kraft gesetzt werden, das bei weitem nicht die tödliche Durchschlagskraft der Spanischen Grippe (1918/19) zu entfalten scheint. Zumal soziale Bewegungen nicht in Sicht seien, die sich als Sachwalter der Muße erfolgreich gegen die „Schlaflosigkeit der Gegenwart“ stemmen könnten. Die von Macho favorisierten, sich vermeintlich „den Reizen der digitalen Unterhaltung und Kommunikation entziehenden ‘Fridays for Future-Kinder’“ taugen dafür jedenfalls nicht. 


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