© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Ein Zeitalter wird besichtigt
Literatur: Mit dem Roman „Spiegel und Licht“ beendet Hilary Mantel ihre monumentale Thomas-Cromwell-Trilogie
Ludwig Witzani

In dem Film „Amadeus“ von Miloš Forman wird Kaiser Joseph II. mit einer üppigen Mozart-Musik konfrontiert, die ihn zugleich begeistert und irritiert. In seiner Hilflosigkeit äußert er dem Werk gegenüber eine Kritik, die zum geflügelten Wort wurde: „Zu viele Noten.“

Kann es auch in einem Roman „zu viele Worte“ geben?  Ja und nein, würde Radio Eriwan antworten. Wenn es sich um Marcel Proust handelt, darf ein Buch wie „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ auch schon einmal dreitausend Seiten lang sein, und wenn der Autor Arno Schmidt heißt, sind auch 1.500 Seiten für „Zettels Traum“ nicht zu viel.

Wie aber verhält es sich mit der 2.300 Seiten umfassenden monumentalen Thomas-Cromwell-Trilogie der britischen Schriftstellerin Hilary Mantel, deren dritter und letzter Band, „Spiegel und Licht“, gerade erschienen ist? Für die ersten beiden Bücher, „Wölfe“ und „Falken“, erhielt die Autorin jeweils den Booker Price, die höchste literarische Auszeichnung der englischsprachigen Welt. Nun bringt das abschließende Werk, lange erhofft und fast schon nicht mehr erwartet, das vielleicht erstaunlichste historische Romanprojekt der letzten Jahre zu einem Abschluß, auch wenn Mantel dafür wieder 1.100 Seiten benötigt und das Buch in seiner gebundenen Ausgabe drei Pfund auf die Waage bringt.

Eine kaum überschaubare Vielfalt an Personen

Das ist eine Menge Holz, könnte man umgangssprachlich sagen, die auch gestandene Rezensenten ins Schwitzen bringt. „Zu viel Stoff“, stöhnte Judith Luig in der Zeit (wir erinnern uns: Kaiser Joseph). „Kein leichtes Buch“, meint der Literaturkritiker Denis Scheck und fügt warnend hinzu: „Man muß sich für dieses Buch Zeit nehmen.“ Würde man Bücher in Analogie zu Bergen begreifen, könnte man Mantels Cromwell Trilogie tatsächlich als einen echten Mount Everest und den letzten Band als den „Hillary Step“ bezeichnen, der dem Leser einiges abverlangt. Aber lohnt sich der Aufstieg?

Ja, er lohnt sich uneingeschränkt, sofern man ein passionierter Leser ist und sein Herz an die Epoche der Tudorzeit in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts verloren hat. Jedenfalls kommen Freunde des Lordsiegelbewahrers auch im dritten Teil der Cromwell-Trilogie voll auf ihre Kosten. Wieder entwickelt die Autorin die Handlung in langen Gesprächen und Selbstreflexionen, die auch einen Rückblick auf die Handlung der ersten beiden Bände gestatten. Wieder arbeitet Mantel mit einer eigenwilligen Erzählform, indem sie ihre Geschichte praktisch personal aus der Cromwellschen Ich-Perspektive entfaltet, aber von Cromwell immer nur in der dritten Personal spricht. „Er“ kann also in dem vorliegenden Buch zweierlei bedeuten: die Beschreibung einer beliebigen Person – und die Ausleuchtung der Cromwellschen Innensicht, so daß der Leser gehörig aufpassen muß, um nicht ins Schleudern zu geraten.

Inhaltlich erlebt der Leser Thomas Cromwell, den ersten Minister König Heinrichs VIII. in „Spiegel und Licht“ auf dem Höhepunkt seiner Macht. Nachdem er im ersten Band („Wölfe“) über Thomas More und im zweiten Teil („Falken“) über Anne Boleyn triumphiert hat, entzieht er nun Schritt für Schritt als Lordsiegelbewahrer dem Adel und der Kirche ihre spätfeudalen Privilegien, um sie der Verfügungsgewalt des Königs zu unterstellen. „Sie denken, sie schreiben ihre eigenen Gesetze“, räsoniert Cromwell über den Hochadel, „aber die Zeiten sind vorbei. Es gibt keine privaten Königreiche mehr. Es gibt nur ein Gesetz, und das ist das Gesetz des Königs.“

Als Kenner und Schüler seines Zeitgenossen Machiavelli vermeidet Cromwell unnötige Grausamkeiten, schreckt aber auch vor dem Einsatz von Gewalt nicht zurück. Dem exilierten englischen Kardinal Reginald Pole schickt er die Mörder durch ganz Europa hinterher, und diejenigen, die der König fallen sehen will, liefert er bedenkenlos dem Henker aus. In dieser irrlichternden Rolle porträtiert die Autorin ihren Protagonisten als einen der Schöpfer der englischen Staatlichkeit, auch wenn sich die konstitutionelle Basis dieser Zentralisierung, König Heinrich VIII., als schwankend erweist.

Als Jane Seymour, die dritte Gattin des Königs, bei der langerwarteten Geburt eines männlichen Thronfolgers stirbt, wendet sich das Glück. Nach neun Tagen Verhören mit lächerlichen Anklagen entzieht ihm das Parlament die bürgerlichen Rechte. Cromwells Briefe an den König bleiben unbeantwortet. Einen Prozeß erhält er nicht, genausowenig wie er seinen Opfern einen Prozeß zugebilligt hatte. Am 28. Juli 1540 stirbt er unter dem Beil des Henkers.

Damit endet die Cromwell-Trilogie nach insgesamt 2.300 Seiten, und es stellt sich die Frage, wie es der Autorin gelingen konnte, über einen derartigen Lektüre-Ozean hinweg auf Kurs zu bleiben. Denn um der Wahrheit die Ehre zu geben: ein uneingeschränktes Vergnügen ist es nicht, die kaum überschaubare Vielfalt der Personen auseinanderzuhalten, die in den Hunderten aufeinanderfolgenden Gesprächen und Reflexionen ihren Auftritt haben – nicht nur, weil die Hälfte von ihnen „Thomas“, „Henry“ oder „Mary“ heißt, sondern auch, weil viele Figuren gleich unter mehreren  Namen auftreten. Seitenweise werden Speisen, Wandteppiche, Kleider oder Gartenanlagen in einer Abbildungslust beschrieben, die selbst für Fontane-Leser eine Herausforderung darstellt. Selten hat eine Autorin ein größeres Zutrauen in die Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltekraft ihrer Leser gesetzt als Hilary Mantel.

Und das, ohne daß dem Leser eine übergreifende formale Konzeption helfen würde, mit der Länge des Romans zurechtzukommen. So lebt etwa der monumentale „Wallenstein“-Roman von Alfred Döblin von der psychologischen Entwicklung des Verhältnisses von Wallenstein und Ferdinand und „trägt“ damit mühelos eine Handlung von über tausend Seiten. Auch die stattliche Länge von Thomas Manns „Buddenbrooks“ wird dadurch nachvollziehbar, daß das Verfallsmotiv von Generation zu Generation neu durchdekliniert wird. Von beidem kann in der vorliegenden Cromwell-Trilogie nicht die Rede sein. Weder entwickelt sich Thomas Cromwell als Romanfigur, noch existieren wirkliche Antagonisten, denn sogar Heinrich VIII.,

Anne Boleyn oder Bischof Gardiner erscheinen nur als Funktionen der Cromwellschen Wahrnehmung. Auch ein übergreifendes Gestaltungsprinzip, das sich in jedem Buch neu entfalten würde, gibt es nicht. Cromwell ist vielmehr das immer gleich flackernde „Licht“, in dem sich die Epoche spiegelt – das aber in einer Pracht und Anschaulichkeit, die ihresgleichen sucht. 

Präsens als Zeitform erzeugt Anschaulichkeit

Wirklich lesenswert ist das vorliegende Romanwerk aus dem fundamentalsten Grund, aus dem Bücher überhaupt gelesen werden: aufgrund der Sprachmächtigkeit und erzählerischen Kraft der Autorin. Auf jeder Seite triumphiert die lebenspralle Einzelheit, die treffende Metapher, die überzeugende Charakterisierung oder eine poetisch ausgemalte Stimmung. Diese Sprachmächtigkeit erzeugt zusammen mit dem durchgängig verwendeten Präsens als Zeitform eine geradezu verblüffende Anschaulichkeit. „Er ist unfähig, seine Abneigung zu unterdrücken“, denkt Cromwell in einem Disput mit dem Herzog von Norfolk, „genausowenig, wie ein Misthaufen etwas gegen seinen Gestank tun kann.“ Prinzessin Mary „ist wie in hungriges Kind, denkt er. Füttere sie mit etwas Aufmerksamkeit, und sie überfrißt sich daran.“

Wenn man will, kann man in dieser Beschreibungsallmacht des unentwegt räsonierenden Lordsiegelbewahrers etwas Artifizielles erkennen, aber literarisch ergiebig und unterhaltsam ist sie auf jeden Fall. Aber Cromwells Sprachmacht erschöpft sich nicht nur im Beschreibenden, er reflektiert auch über Religion, Kunst, sogar über die Wiederaufforstung der Wälder und am Ende über seine letzten Sekunden am 28. Juli 1540. „Er senkt den Körper, um zu sterben“, heißt es auf der letzten Seite von „Spiegel und Licht“. „Er denkt, andere können es, also kann ich es auch.“  

Damit schließt der Roman, und jeder Leser mag sich um sein eigenes Fazit bemühen. Bei vielen mögen es Gedanken, Wortspiele und Einsichten sein, die wie Krümel vom Tisch der Autorin fielen. Andere erleben eine Epoche als so „auserzählt“, wie man es noch nie gelesen hat. Allen aber bleibt nur das Staunen über diesen beispiellosen literarischen Fesselungsakt, der von England aus über die Welt kam. Daß so viele Millionen Leser einer Autorin folgen, die viel fordert, aber noch mehr zu geben hat, zählt zu den erfreulichsten Tatsachen des neueren Literaturbetriebes.   

Hilary Mantel: Wölfe. DuMont, Köln 2012, broschiert, 768 Seiten, 14 Euro

Hilary Mantel: Falken. DuMont, Köln 2014, broschiert, 480 Seiten, 9,99 Euro

Hilary Mantel: Spiegel und Licht. DuMont, Köln 2020, gebunden, 1.104 Seiten, 32 Euro