© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 25/20 / 12. Juni 2020

Der Flaneur
Sommerliche Familie
Paul Leonhard

Der Liegestuhl ist zur Sonne hin ausgerichtet. Der Kaffee dampft aus dem Pott. Ein Roman liegt ebenso griffbereit wie ein prächtiger Bildband. Mit Blick zum blauen Himmel, wo einige Vögel umherfliegen, greife ich zur Sonnencreme.

Die Familie im Garten gegenüber nehme ich zum ersten Mal wahr. Dort wird gerade die Holzplatte des Tischs mit einem buntgestreifen Tuch bedeckt. Eine junge Frau bringt Sitzkissen herbei und deckt den Tisch mit Geschirr ein, an dem ein vielleicht elfjähriges Mädchen Platz genommen hat. Eine große Dänische Dogge jagt mit einem roten Ball im Maul über den Rasen und verschwindet hinter dem Geäst von Nadelbäumen.

Für ein Frühstück ist es eigentlich zu spät, für das Mittagessen zu früh. Aber vielleicht hat man ja gewartet, bis die Sonne an sommerlicher Kraft gewonnen hat. Sie leuchtet den Tisch geradezu aus wie eine Bühnenszene, die die Blicke einfängt. Bis auf ein kleines Sicht-Quadrat ist der Garten von Büschen und Bäumen geschützt.

Der Kleinste hat wieder seine Mütze auf dem Kopf und löffelt eifrig seine Suppe.

Inzwischen ist ein schätzungsweise Dreijähriger aus seinem Stuhl geklettert. Die Mutter nimmt ihm die Mütze ab, und als der Junge daraufhin sein Hemd ausziehen will, schüttelt die Frau den Kopf. Das bleibt an. Der ältere Bruder kommt mit Besteck herbei und verteilt es auf dem Tisch.

Als ich erneut hinschaue, ist auch der Hausherr dazugekommen. Er sitzt auf einer Bank und liest nebenbei Zeitung. Die Frau stellt einen silbern in der Sonne glänzenden Topf in die Tischmitte und verteilt den Inhalt auf die Teller. Der Kleinste hat seine Mütze wieder auf und löffelt eifrig seine Suppe.

Ich bekomme auch Hunger und gehe in die Küche, schaue ins Vorratsregal und den Kühlschrank. Als ich mit einem dampfenden Teller zurückkomme, ist gegenüber alles abgeräumt. Die Familie ist verschwunden, nur ein roter Schirm leuchtet mir aufgeklappt entgegen.