© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Fanal des stillen Protestes
Symbol des Aufbegehrens: Der Kniefall als Geste der Demut und des Respekts
Dietmar Mehrens

Da steht er, in einer Reihe mit seinen Kollegen, und muß sich anschreien lassen. Mitten in der amerikanischen Hauptstadt Washington, die seit dem Skandaltod von George Floyd in Aufruhr ist. Er steht vor einer Absperrung. Dahinter: farbige Aktivistinnen, die Plakate tragen mit der Aufschrift „Black Lives Matter“ oder „I can’t breathe“. Er soll die Aufgebrachten in Schach halten. Sie fordern ihn heraus mit Sprechchören, mit Fragen wie: „Wem dient ihr?“ Verhärtete Fronten. Plötzlich zieht er, der bisher so stoische Uniformierte, die schwarze Schutzmaske vom Gesicht. Es ist, als hätten er, der Polizist, und sie, die Bürgerrechtlerin, sich wortlos verständigt auf eine Geste der Demut und des wechselseitigen Respekts: Diesseits und jenseits des Sperrzauns gehen beide fast zeitgleich in die Hocke, ein Knie berührt den Boden, das andere bleibt, rechtwinklig gebeugt, oben. Die Szene versinkt im gemeinschaftlichen Gejohle der Demonstranten.

Es ist die Geste, die derzeit ganz Amerika verbindet. Ihr Erfinder ist der amerikanische Footballspieler Colin Kaepernick, der 2016 aus Wut über Polizeigewalt erst Socken trug, auf denen Schweine mit Polizeimützen zu sehen waren, dann aber das deutlich wirksamere Niederknien als Mittel des Protests für sich entdeckte. Problematisch daran war, daß die Geste in unheilvolle Konkurrenz trat zu einer anderen: der des Respekts vor der US-Nationalhymne, die vor jedem Spiel der National Football League (NFL) im Stadion zu hören ist. Viele deuteten den Kniefall des Quarterbacks der San Francisco 49ers daher als Protest gegen das Vaterland und nicht gegen Rassenhaß. 

Der Fall des 46jährigen George Floyd hat eine Dublette: den des schwarzen US-Amerikaners Eric Garner. Das macht den Fall so schwer erträglich. Auch Garner flehte 2014 vor seinem Tod im Würgegriff der Polizei: „Ich kann nicht atmen!“ Der Satz geht heute als Twitter-Parole um die Welt. Ein zweiter populärer Hashtag lautet: „#takeaknee“, auf deutsch: „Knie nieder“. Auch er überquerte den Atlantik. Am weltweiten Protestwochenende nach Pfingsten senkten aus Solidarität sogar in der Bundesliga Spieler vor dem Anpfiff ihre Knie zu Boden. „#ican’tbreathe“ drückt Hilflosigkeit und Ohnmacht aus; der Kniefall aber hat, wie Kaepernick vorexerzierte, das Potential, zu einem Fanal des gewaltlosen Widerstands zu werden, jener Form des Aufbegehrens, mit der Mahatma Gandhi das britische Imperium in die Knie zwang.

Eric Reid, Kaepernicks Mannschaftskollege, schloß sich damals dem stillen Protest an. Er begründete das mit dem religiösen Aspekt der Geste. Noch heute findet man in katholischen Kirchen die Knieleiste, auf der der Gläubige bei Teilen der Liturgie kniend verharrt, um seine Ehrfurcht vor Gott auszudrücken. Seit jeher knien Menschen vor göttlichen Herren und menschlichen Herrschern. Der Besessene von Gerasa fiel unvermittelt vor Jesus nieder, als der Messias seinen Weg kreuzte: Die göttliche Autorität des Galiläers versetzte selbst Dämonen in Panik. Prominente wie Sean Connery oder Elton John mußten vor der britischen Königin auf einem gut gepolsterten Schemel niedersinken, um den Ritterschlag zu erhalten. Mancher kniet im Vorfeld des Tags der Tage noch heute vor seiner Angebeteten, um sie zum Traualtar führen zu dürfen.

Doch nicht jeder Kniefall entspringt einer inneren Haltung der Demut. Oft ist auch politisches Kalkül im Spiel wie beim legendären Gang Heinrichs IV. zur Burg Canossa (1077), wo sein Gegenspieler Papst Gregor VII. logierte. Der 26jährige Monarch hatte sich im Investiturstreit mit der Kurie angelegt und zahlte nun kräftig Lehrgeld. Ob er allerdings tatsächlich tagelang kniend um Einlaß bat, um vom päpstlichen Bann erlöst zu werden, ist umstritten. Auch Willy Brandt sah sich nach dem legendären Kniefall von Warschau, der sich übrigens im Dezember zum 50. Mal jährt, Skepsis ausgesetzt. Der Kanzler konnte aber glaubhaft versichern, einer spontanen Eingebung gefolgt zu sein.

Entscheidend für die Glaubwürdigkeit der Demutsgeste ist, wieviel der Kniende damit riskiert. Schwer zu übertreffen ist in dieser Hinsicht Daniel, der Held aus dem nach ihm benannten Buch des Alten Testaments. Erst landete er im Feuerofen, weil er sich weigerte, vor dem Goldgötzenbild Nebukadnezars niederzufallen, und später, unter dem Mederkönig Darius, in der Löwengrube, weil er an dem Brauch festhielt, dreimal am Tag niederzuknien und zu seinem Gott zu beten.

,,Wer vor Gott in die Knie geht, kann vor Menschen geradestehen“, war der Wahlspruch des Evangelisten Otto-Uwe Kramer (1948–2015), der als habilitierter Mathematiker eine wissenschaftliche Karriere sausen ließ, um an das Studium der Zahlen noch rasch das der Theologie dranzuhängen. Der Hochbegabte wurde Propst in Ostholstein und lockte mit jedem Gottesdienst Hunderte in die Neustädter Stadtkirche. Den ideologischen Irrsinn der „Bibel in gerechter Sprache“ lehnte er ebenso ab wie die unbiblische Segnung homosexueller Paare, weil er nicht bereit war, Kerninhalte des Evangeliums an den flachen Humanitarismus zu verraten. Wie sein Vorbild Daniel bekam es der wackere Propst mit mittelmäßigen Intriganten zu tun, die seine Beharrungskräfte zum Anlaß nahmen für ein perfides Macht- und Ränkespiel, dem die Zusammenlegung von Kirchenkreisen als Mittel zum Zweck diente. Kramer verstarb, von schwerer Krankheit ermattet, kurz nach seiner Pensionierung.

In eine Art Feuerofen begab sich auch Colin Kaepernick mit seiner Rebellion und muß nun auf Nachruhm als Lohn der Unbotmäßigkeit hoffen. Vielleicht ist die globale Wiederkehr seines Kniefalls ein erstes Anzeichen dafür. Sportlich ging es für ihn nach dem Sommer 2016 jedenfalls steil bergab. Schon bei den Saison-Playoffs spielte er keine Rolle mehr. Am Neujahrstag 2017 stand er letztmals bei einer NFL-Partie auf dem Platz.