© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Eine Leitkultur dankt schleichend ab
Bröckelnde Identität: Die Unruhen in den USA spiegeln tektonische Verschiebungen der Gesellschaft wider
Felix Dirsch

Die jüngsten Unruhen in den Vereinigten Staaten mögen sich im Rückblick nicht dramatisch ausnehmen. Sie verlaufen nicht viel anders als frühere Proteste nach Gewaltverbrechen (Detroit 1967, Los Angeles 1992, Ferguson 2014). Dennoch spielen zwei Faktoren im Fall des getöteten George Floyd eine besondere Rolle: Zum einen sind Afroamerikaner von den sozialen Konsequenzen der Corona-Maßnahmen stärker in Mitleidenschaft gezogen als andere Bevölkerungsschichten. Zum anderen sehen viele Rädelsführer der Demonstrationen und ihre Mitstreiter in den Medien in den Ausschreitungen ein willkommenes Mittel, die Machtposition des US-Präsidenten Donald Trump weiter zu untergraben.

Trotz des eher zufälligen Anlasses, der mit den ethnischen und sozialen Bruchlinien der US-Gesellschaft zu tun hat, offenbart der jüngste folgenreiche Vorfall einiges über die Krise der amerikanischen Identität. Dabei geht es um weit mehr, als die omnipräsenten Vorwürfe von Rassismus, der nicht geleugnet werden kann, aussagen können.

Die neuesten Konflikte sind, wie der US-Historiker afroamerikanischer Abstammung Eddie Glaude jr. unlängst unterstrichen hat, eine Spiegelung tieferer Spannungen in der US-Gesellschaft. Durch forcierte Einwanderung in den letzten Jahrzehnten und aufgrund des unterschiedlichen generativen Verhaltens der Ethnien sind epochale Wandlungen absehbar. Die Vertreter der traditionellen Leitkultur der White Anglo-Saxon Protestants (WASP) danken schon aus demographischen Gründen ab. Dieser Prozeß erscheint unaufhaltsam, mag er sich auch lange hinziehen. 

Immerhin scheinen die weißen protestantischen Männer der Mittel- und Oberschicht, Nachkommen europäischer Einwanderer, ihren Niedergang nicht kampflos hinzunehmen. In Trump und Teilen der Republikanischen Partei, so sehen es manche, hat diese Gruppe eine mächtige Vertretung bekommen, die das „Todesröcheln eines sterbenden Amerikas“ (Glaude) wenigstens hinauszögern könnte. Wer dieser Deutung folgt, erkennt, daß der Immobilienmilliardär an der Staatsspitze nicht primär als das Ergebnis eines „Baskets of Deplorables“ gelten kann, wie es seine einstige Konkurrentin um das Präsidentenamt dargestellt hat. In einer Rede hatte sie behauptet, daß die Hälfte von Trumps Anhängern „rassistisch, sexistisch, homophob, fremdenfeindlich“ sei. Tatsächlich läßt sich das Resultat der US-Präsidentschaftswahlen von 2016 auch durchaus geschichtsphilosophisch interpretieren.

Obwohl das Kürzel WASP öfter abschätzig verwendet wird, verbergen sich dahinter große kulturelle Leistungen; diese sehr heterogene Schicht trug über sehr lange Zeiträume für die Größe der USA maßgebliche Verantwortung. Diese Relevanz hat man schon früh auch außerhalb des Landes gesehen. Max Webers Analyse der protestantischen Ethik arbeitete bereits vor über einem Jahrhundert eine Korrelation zwischen der Mentalität der WASP und der Genese des Kapitalismus heraus. Das Freiheitsethos, das diese Schicht bis heute verkörpert, hat das Land vor kollektivistisch-totalitären Experimenten bewahrt, die Europa das 20. Jahrhundert hindurch nachhaltig erschüttert haben.

„Warum gibt es in den USA keinen Sozialismus?“ Diese Frage des Nationalökonomen Werner Sombart am Anfang des letzten Jahrhunderts ist trotz Bernie Sanders bis in die unmittelbare Gegenwart bedeutsam. Auch dieser Sonderweg der USA, dessen Ende sich aufgrund ethnischer Verschiebungen gleichfalls seit längerer Zeit ankündigt, ist der bisherigen Leitkultur geschuldet. Sozialstaatlichen Umverteilungen ist diese Schicht stets kritisch gegenübergestanden, wenngleich manche Repräsentanten angesichts der Corona-Krise und deren Auswirkungen eine Kehrtwendung vollzogen haben.

Huntington beschreibt die Sinnkrise

Einen klassisch zu nennenden Beitrag zur Untersuchung der US-Identität hat der amerikanische Politologe Samuel P. Huntington vorgelegt. Er bohrt in seiner Schrift „Who are we“ tiefer: Die Sinnkrise wurzelt in einer veränderten Wahrnehmung des eigenen Landes seit den Wandlungen der 1960er Jahre. Um 1900 war es einfach zu sagen, was Amerika eigentlich ist: Das weiße, protestantische Amerika, die Nachfahren der frühen Einwanderer, machte den Nukleus der USA aus. Ihm hatten sich alle Einwanderer und die Nachfahren der Ureinwohner zu assimilieren. Hundert Jahre später, nach dem Siegeszug der Multikulturalisten, ist die Frage „Wer sind wir?“ viel komplizierter zu beantworten. Selbst die außerhalb der USA meist mit Argwohn betrachteten Erfolge der evangelikalen Christen stehen genau besehen für den Versuch, die Folgen des Umbruchs und die damit einhergehende Desorientierung zu bewältigen. 

Dem Faktor „Rasse“ schreibt Huntington immer noch sozialpolitische Relevanz zu, wenn auch in abnehmender Weise. Den „Nativismus“ der Weißen sieht er stimuliert durch die „Bedrohung ihrer Sprache, Kultur und Macht“. Huntington schließt seine Schrift mit der Frage: Wie sehen die USA in Zukunft aus: kosmopolitisch, imperialistisch oder nationalistisch? Welcher Weg beschritten werden wird – auch infolge weiterer Migration durch Hispanics – ist fraglich.

Zwei Jahrzehnte nach dem Erscheinen der Schrift wird deutlich: Der kulturelle Kern des Landes ist heute so wenig klar wie damals. Der Berechenbarkeit der früher „einzigen Weltmacht“ (Brzezinski) ist diese Unsicherheit kaum dienlich – weder nach innen noch nach außen.

Samuel P. Huntington: Who are we – Die Krise der amerikanischen Identität. Europa Verlag, Hamburg 2004, gebunden, 540 Seiten, nur noch antiquarisch erhältlich