© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Einst subversiv, heute erschütternd konventionell
Eine Erinnerung an Susan Sontag
(wm)

Um die einst an der Spitze der amerikanischen Theorie-Avantgarde reitende Essayistin, Regisseurin, Film- und Literaturkritikerin sowie publizistisch eifrig bekennende USA-Hasserin Susan Sontag (1933–2004) ist es sehr still geworden. Was Marianna Lieder, Redakteurin des Philosophie-Magazins, tief bedauert, so daß sie die auch in der Bundesrepublik und in Frankreich bis in die frühen 1990er breit rezipierte New Yorker Intellektuelle mit einem ausführlichen Preisgesang in Erinnerung zu rufen versucht (Heft 4/2020). Ausgangspunkt ihrer Lobeshymnen sind Sontags „Notes on ‘Camp’“ („Anmerkungen zu ‘Camp’“), ein 1964 in der linksliberalen Partisan Review erschienener Aufsatz, der ihr Star-Ruhm bescherte. „Camp“ ist ein Codewort für alles Extraordinäre, steht für die Lust am Übertriebenen, Übergeschnappten. „Es gleicht einem ästhetischen Filter, der Wahrnehmungskonventionen außer Kraft setzt.“ Damit brachte Sontag ein Lebensgefühl zum Ausdruck, das der Mehrheit ihrer Zeitgenossen fremd war, weil es keine tradierten Geschlechterrollen oder sonstwie fest umrissene Identitäten akzeptierte. Die Welt aus der Camp-Sicht betrachtet, eröffne die Chance der „Umwertung des repressiven Wertesystems“. So erscheint Sontag wie eine Pionierin des im Kanon von Gender und Cultural Studies fest verankerten  „Dekonstruierens“. Doch der historische Vergleich zeige, daß das, was für Sontag noch „subversives Denken“ war, inzwischen „in nahezu erschütternder Weise konventionell klingt“. Insoweit bereitete die Thomas-Mann-Verehrerin jener „neuen Hierarchie“ den Weg, in der heute kulturlose Verächter „toter weißer Männer“ den Ton angeben. 


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