© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Zurück in die Zukunft: Rückt 1984 immer näher?
Frappierende Parallelen
Fritz Söllner

Das Jahr 1984 liegt zwar schon lange hinter uns, aber die gleichnamige Dystopie George Orwells rückt immer näher. Mit jeder neuen Krise tun wir einen weiteren Schritt hin zu einem totalitären System – und in der aktuellen Corona-Krise tun wir einen besonders großen Schritt. Solche Sorgen mögen übertrieben erscheinen, aber bei genauem Hinsehen zeigen sich erstaunliche und erschreckende Parallelen zwischen dem Ozeanien Orwells und Entwicklungen in unserer eigenen Gesellschaft.

Ozeanien ist kein Rechtsstaat. „In Ozeanien gibt es kein Gesetz.“ Allein maßgebend ist das Programm der herrschenden Partei. So weit sind wir in der Bundesrepublik noch nicht. Allerdings sind Tendenzen zur Aushöhlung des Rechtsstaats unübersehbar. Das Recht ist nicht mehr die höchste Instanz, die der Politik Schranken setzt, sondern es verkommt langsam zu einem Instrument zur Realisierung politischer Ziele – einem Instrument unter vielen. An die Stelle der abstrakten Macht des Rechts ist die konkrete Macht der Moral getreten. Maßstab und Leitlinie des politischen Handelns ist heute eine universalistische Gesinnungsethik, für die nur die gute Absicht zählt und die Konsequenzen einer so motivierten Politik so gut wie keine Rolle spielen. Dabei werden auch Verstöße gegen geltendes Recht in Kauf genommen – etwa wenn in der Corona-Krise einschneidende Maßnahmen getroffen werden, die den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der Bestimmtheit nicht entsprechen.

In Ozeanien herrscht die Elite der inneren Partei. Das Pendant zu dieser stellt bei uns der politisch-medial-zivilgesellschaftliche Komplex dar. Diese unheilige Allianz aus den Funktionären der etablierten Parteien, den Vertretern der meinungsbildenden Presse und des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sowie den für Nichtregierungsorganisationen tätigen Berufsaktivisten eint und verbindet das Bekenntnis zur universalistischen Gesinnungsethik. Im Austausch untereinander werden deren konkrete Inhalte festgelegt – und gemeinsam gegen jegliche Kritik verteidigt, wozu vor allem die Waffe der „Politischen Korrektheit“ dient. Trotz gewisser Differenzen in Detailfragen ziehen die Mitglieder dieser Elite im wesentlichen an einem Strang. Das gilt auch über Parteigrenzen hinweg. Man darf sich von den Kämpfen um Macht und Regierungsposten nicht täuschen lassen: Die Inhalte und Ziele der Politik selbst bleiben davon unberührt.

Ein seit jeher bewährtes Mittel, um sich die Bevölkerungsmehrheit gefügig zu machen, besteht in der Ausnutzung von Notlagen der einen oder anderen Art. Von Ozeanien wird ein immerwährender Krieg gegen Ostasien und Eurasien geführt, und in Deutschland befinden wir uns seit über einem Jahrzehnt permanent im Krisenmodus: Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Klimakrise und jetzt die Corona-Krise. Die nächsten Krisen sind auch schon abzusehen: eine Staatsschuldenkrise und wahrscheinlich eine Inflations- und Währungskrise. Nach der Krise ist vor der Krise.

Mit jeder Krise wurde die Belastung der Bürger erhöht, ihr Freiheitsspielraum eingeschränkt, die Zentralisierung des deutschen Staates vorangetrieben und der Rechtsstaat weiter ausgehöhlt. Die Corona-Krise stellt den (vorläufigen) Höhepunkt dieser Entwicklung dar – macht sie doch die kühnsten Träume von Regulierungsfanatikern und Bevormundungsenthusiasten wahr. Mit der Corona-Pandemie als Rechtfertigung können Politik und Behörden nicht nur darüber entscheiden, welche Branchen „systemrelevant“ sind, sondern auch den Bürgern vorschreiben, wen sie treffen dürfen, wohin sie gehen dürfen und wer noch oder wieder arbeiten darf. Auch nach einem Ende dieser Krise bietet sich der Wirtschaftslenkung ein großer Spielraum – bei der Ausgestaltung der Hilfen für die Unternehmen, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind. So wird bereits lautstark gefordert, auf diese Weise auch die Klimapolitik voranzutreiben.

Die Bevölkerung von Ozeanien wird durch die Hoffnung auf einen Endsieg bei der Stange gehalten. Bei uns dient die Aussicht auf einen Corona-Impfstoff dazu, die Bürger zum Durchhalten und zur Akzeptanz der Corona-Politik zu bewegen. Aber genauso wie die Hoffnung auf einen Endsieg trügerisch ist, kann sich auch die auf einen Impfstoff zerschlagen. Was also, wenn in absehbarer Zeit kein Impfstoff gefunden werden sollte? Sollen wir dann jahrelang nur vermummt in öffentliche Räume gehen dürfen und unsere Freiheitsrechte weiterhin massiv einschränken lassen?

Für die Regierung ist es hilfreich, wenn es auch einen inneren Feind gibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser wirklich existiert. Es genügt, wenn die Bevölkerung glaubt, daß es in ihrer Mitte übelwollende Individuen gibt, denen man nicht Gehör schenken darf. 

Selbstverständlich will sich die Elite diese ihren Zielen und Interessen so opportune Krise nicht „kaputtreden“ und die zur Bekämpfung dieser Krise eingesetzten Instrumente nicht aus der Hand nehmen lassen. Das läßt sich am besten verhindern, wenn die Bevölkerung indoktriniert und eingeschüchtert wird. In Ozeanien ist das die Aufgabe des Wahrheitsministeriums und des Großen Bruders. Die Rolle des Wahrheitsministeriums haben bei uns die Mainstream-Medien inne, die nach Kräften die Position der Regierung unterstützen. Zu diesem Zweck werden die offiziellen Verlautbarungen weitgehend kritiklos übernommen und eifrig unters Volk gebracht. Die „vierte Gewalt“ hat ihre Wächterfunktion zum Großteil eingebüßt und agiert eher als Erfüllungsgehilfe der Regierung denn als Kontrollinstanz.

Noch wichtiger als die Verbreitung und Verstärkung der Regierungsbotschaft ist aber die Unterdrückung anderer, kritischer Positionen. Es gibt nachvollziehbare Gründe dafür, die Corona-Pandemie nicht für so gefährlich wie behauptet und die gegen sie ergriffenen Maßnahmen für schädlich und übertrieben zu halten – Gründe, die eine ernsthafte Würdigung verdienen. Statt dessen werden die Kritiker ignoriert und, wenn das nicht geht, in bester „1984“-Manier zu Unpersonen erklärt – indem man sie als „Corona-Leugner“ oder „Verschwörungstheoretiker“ diffamiert. Ein klassischer Fall des von Politik und Medien verwendeten Neusprech, das der Desinformation dient. Nicht nur in Ozeanien ist bekannt, daß die Sprache das Denken beeinflußt.

Als anständiger Bürger tut man brav seine Pflicht, indem man den Anordnungen der Regierung nicht nur Folge leistet, sondern diese auch nach Kräften unterstützt. Damit das auch wirklich geschieht, braucht es einen Großen Bruder. Schließlich ist Vertrauen zwar gut, aber Kontrolle besser. In der Tat hat die Überwachung der Bürger ein bislang in der Bundesrepublik nicht gekanntes Ausmaß erreicht. Die Möglichkeiten dazu wurden deutlich erweitert, insbesondere dadurch, daß die Polizei in einigen Bundesländern Zugriff auf die Daten der Gesundheitsämter erhalten hat. Und welche weitgehende Überwachung Corona-Apps auf dem Smartphone erlauben, sieht man anhand der Praxis gewisser asiatischer Staaten. Nicht ohne Grund hat man auch bei uns schon Stimmen aus der Politik vernommen, die eine verpflichtende Installation dieser Software fordern. Als ob das noch nicht genug wäre, ist es auch gelungen, nicht wenige Bürger zu Spähern à la „1984“ zu machen. Die Krisenpolitik hat viele den verborgenen Polizisten in sich entdecken lassen und dazu geführt, daß es viele Corona-Hilfssheriffs und Corona-Blockwarte gibt, deren Engagement von der Politik ausdrücklich gebilligt wird.

Um sich die Unterstützung der Öffentlichkeit zu sichern, ist es für die Regierung hilfreich, wenn es neben einem äußeren auch einen inneren Feind gibt. Dabei spielt es keine Rolle, ob dieser wirklich existiert. Es genügt vollkommen, wenn die Bevölkerung glaubt, daß es in ihrer Mitte übelwollende Individuen gibt, denen man nicht Gehör schenken darf. In Ozeanien spielt diese Rolle die (angebliche) Brüderschaft; in der Bundesrepublik geben die (angeblichen) Populisten das Feindbild ab.

Mehr Staat, mehr Kontrolle und weniger Freiheit: Der Bürger wird immer mehr als verletzliches und schutzbedürftiges Wesen angesehen und auch so behandelt: Der Staat muß ihn rundum betreuen, ihm seine Sorgen und Probleme abnehmen.

Seit Beginn der Epoche der Krisen wird dieses Feindbild von etablierten Parteien und etablierten Medien kultiviert. Als Populist gilt dabei jeder, der die jeweilige Krisenpolitik hinterfragt und deutlich kritisiert. Kritiker kann man leicht mundtot machen, wenn es gelingt, sie als Populisten abzustempeln, da sich dann eine Auseinandersetzung mit ihren Argumenten erübrigt. Mehr noch, Kritik kann sogar schon im Keim erstickt werden, da potentielle Kritiker befürchten müssen, das Populismusetikett angeheftet zu bekommen und deshalb lieber den Mund halten. Auch in der Corona-Krise werden Kritiker der aktuellen Politik von den etablierten Medien nicht nur häufig als „Corona-Leugner“ gebrandmarkt, sondern immer auch des Populismus bezichtigt. 

Wenn nicht nur die propagierten Ziele verfolgt werden, sondern wenn es auch tieferliegende Motive gibt, dann können beide mitunter in Konflikt miteinander geraten – und dann kann es notwendig sein, erstere „geräuschlos“ an letztere anzupassen. In solchen Fällen ist es nützlich, die Fähigkeit des Doppeldenk zu besitzen und widersprüchliche oder sogar sich gegenseitig ausschließende Überzeugungen vertreten zu können. In Deutschland haben die Vertreter der Elite in den Jahren des andauernden Krisenmodus die Fähigkeit des Doppeldenk perfektioniert. Das zeigt sich auch in der Corona-Krise, in der mit unbewegtem Gesicht die widersprüchlichsten und unsinnigsten Ziele und Maßnahmen verkündet werden: Die Bundeskanzlerin bezeichnete es im März als Ziel der Corona-Politik, die Verdoppelungszeit der Fallzahlen auf über zehn Tage zu erhöhen, warnte aber wenige Wochen später, als diese Zeit schon bei über 50 Tagen (!), lag vor Lockerungen und gab neue Ziele aus.

Interessant ist auch der Werdegang der Schutzmasken: Sie waren erst schädlich, dann überflüssig, schließlich nützlich, und heute sind sie unbedingt notwendig.

Worin bestehen nun aber die schon mehrmals erwähnten eigentlichen Ziele, die die Elite mit ihrer Krisenpolitik verfolgt? Um nicht als Verschwörungstheoretiker abgestempelt zu werden, möchte ich mich darauf beschränken festzustellen, auf was die Krisenpolitik der letzten Jahre hinausläuft und welche Ziele deshalb hinter dem Verhalten der Elite stecken können – ohne damit zu behaupten, daß sie diese Ziele auch bewußt verfolgt. Schließlich könnte alles zufällig passieren …

Wie wir gesehen haben, tendiert die Krisenpolitik der letzten Jahre eindeutig in die Richtung hin zu mehr Staat, mehr Kontrolle und weniger Freiheit. Der Bürger wird immer mehr als verletzliches und schutzbedürftiges Wesen angesehen und auch so behandelt: Der Staat muß ihn rundum betreuen, ihm seine Sorgen und Probleme abnehmen – und damit auch Verantwortung, Rechte und Freiheiten. Aus dieser Perspektive besteht das Fernziel in einem bürokratischen und technokratischen Zentralstaat auf europäischer Ebene, in dem sich eine moralisch überlegene Elite um eine unmündig gehaltene Bevölkerung zu deren eigenem Besten kümmert. Und in einem solchen Staat lassen sich dann auch die Gebote der universalistisch-gesinnungsethischen Hypermoral ohne Probleme umsetzen.

Der Leser wird unschwer erkannt haben, daß ich in Sachen Corona-Politik nicht mit der Regierung einer Meinung bin. Ich halte diese Pandemie für weniger gefährlich als sie dargestellt wird und lehne deshalb die ergriffenen Maßnahmen als übertrieben und schädlich ab. Aber ich kann mich auch täuschen und es ist möglich, daß die Regierung recht hat und ihre Politik sinnvoll und notwendig ist.

Aber darum geht es mir auch gar nicht in erster Linie: Die Corona-Politik mag richtig oder falsch sein – worauf ich hinweisen wollte und was ich vor allem kritisiere, ist die Art und Weise, wie diese Politik konzipiert und umgesetzt wurde: ohne hinreichende rechtliche Grundlage, ohne Abwägung der Kosten und Nutzen und ohne eine offene und vorurteilsfreie Würdigung aller Argumente; mit einem Wort: als alternativlos. Damit wird ein aus anderen Krisen nur zu gut bekanntes Muster fortgesetzt, was mehr als nur ein wenig Anlaß zur Sorge um Rechtsstaat, Meinungsfreiheit und Bürgerrechte gibt. Die Entwicklung geht in eine bedenkliche Richtung, und der Große Bruder erscheint von Tag zu Tag und von Krise zu Krise realer und bedrohlicher.

Es ist allerhöchste Zeit, daß sich die Bürger dieser Gefahr bewußt werden. Nichts ist besser hierfür geeignet als die Lektüre von Orwells Buch, die hiermit jedem Bürger ans Herz gelegt sei – solange sie noch erlaubt ist.






Prof. Dr. Fritz Söllner, Jahrgang 1963, ist Inhaber des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre an der TU Ilmenau. Zuvor lehrte er an der Universität Bayreuth und war John F. Kennedy-Fellow in Harvard. Seine Schwerpunkte sind Migrations-, Klima- und Energiepolitik. Er ist Autor mehrerer Bücher, zuletzt erschien: „System statt Chaos. Ein Plädoyer für eine rationale Migrationspolitik“.

Foto: Der Große Bruder sieht dich: So weit wie in der Novelle von George Orwell sind wir in Deutschland noch nicht. Allerdings sind Tendenzen unübersehbar.