© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/20 / 19. Juni 2020

Der Große Bruder Allah
Tilman Nagel, der unbequeme Nestor der deutschen Islamwissenschaft, erklärt eine Weltreligion
Dirk Glaser

Als im Sommer 2018 Thilo Sarrazins „Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht“ erschien (JF 36/18), waren die Reihen der Ablehnungsfront schnell und fest geschlossen. Von den bildungsfernen Bewirtschaftern des öffentlich-rechtlichen Phrasensumpfs bis zu glaubensfernen Kirchenfunktionären erscholl ein Ruf wie Donnerhall: „Pure Angstmache und peinlicher Dilettantismus!“ Um aber dem promovierten Volkswirt Sarrazin die Kompetenz in Sachen Islam zumindest mit einem Hauch von Überzeugungskraft abzusprechen, mußten diese patentierten Dilettanten die Autorität der Islamwissenschaft bemühen.

Die war in der repräsentativen Gestalt von Professor Mathias Rohe (Universität Erlangen-Nürnberg) gern zu Diensten. Rohe, für Sarrazin einer der eifrigsten Akteure bei der Vollverschleierung der Wahrheit über „Mißstände im deutschen Islam“, feuerte in seiner von der Deutschen Presse-Agentur in sämtliche Lokalblätter zwischen Husum und Hoyerswerda eingespeisten Stellungnahme gegen das Buch des ehemaligen Berliner SPD-Finanzsenators die am häufigsten von „Integrations“-Illusionisten verwendete Blendgranate ab: Muslimische Zuwanderer seien nicht derart in ihrer Religion gefangen, daß sie sich nicht auf säkulare Gesellschaften „einlassen“ könnten.

Das paßte haargenau zu der in Rohes Disziplin seit Jahrzehnten gepflegten Tradition der Verharmlosung einer totalitären Politreligion. Man erinnere sich nur, welche kindische Parole der international hoch angesehene Iranist und Religionshistoriker Carsten Colpe (FU Berlin) nach dem Terrorangriff auf das New Yorker World Trade Center ausgab: „Der 11. September 2001 hat mit dem Islam nichts zu tun, wenn man den Islam als eine historisch-religiös-politische Größe, als ein Ganzes versteht“ („Problem Islam“, 2002).

Ein Gelehrter, der solchen Verrat an seiner Wissenschaft nicht mitmacht, ist Tilman Nagel, der von 1981 bis 2007 in Göttingen, ironischerweise an der Wirkungsstätte von Colpes alles andere als islamfreundlichem Lehrer, dem genialischen Hans Heinrich Schaeder (1896–1958), den Lehrstuhl für Arabistik und Islamwissenschaft innehatte. Nagel ist mit bedeutenden, auch von Thilo Sarrazin mit Gewinn gelesenen religionshistorischen Monographien, einsetzend mit einer textkritischen Einführung in den Koran (1983), auf den Plan getreten und auch außerhalb seines Faches wahrgenommen worden, so daß er bis 2009 als ein zunehmend unliebsamer, weil unbequemer Experte in staatlichen Gremien saß, die sich mit den Problemen der Integration von Muslimen und der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts befaßten.

Nagels jüngstes Werk stellt die schlichte Frage „Was ist der Islam?“ und will die „Grundzüge einer Weltreligion“ vermitteln. Klingt bescheiden nach Volkshochschule, zieht tatsächlich jedoch die anspruchsvolle Summe aus den weitausgreifenden Forschungen des renommierten Mohammed-Biographen (2008) und verlangt mit kompendiösen knapp 700 Seiten dem Leser einiges ab. Ziel des Unternehmens ist es, das interessierte Publikum „auf die erheblichen Differenzen aufmerksam zu machen, die zwischen der Weltauffassung des Muslims und derjenigen des jeglichen überindividuellen Bezug zum Transzendenten leugnenden zeitgenössischen Europäers bestehen“.

Als Gegner ernst nehmen 

Damit werde überhaupt erst die Voraussetzung für eine realistische Einschätzung des Islams geschaffen, „die diesen als Gegner unseres Gemeinwesens ernst nimmt“. Denn diejenigen, die von Amts wegen für die Geltung der freiheitlichen Grundordnung eintreten müßten, und alle Bürger, denen deren unangefochtene Geltung am Herzen liege, „benötigen klare Vorstellungen von dem geistigen Ringen, dem sie sich zu stellen haben“. 

Das ist eine im Geiste des Aufklärers Lessing formulierte Hausaufgabe, die eigentlich Selbstverständliches für eine sinnvolle Debatte über öffentliche Angelegenheiten verlangt: Sachkenntnis. Die in der bundesdeutschen Diskursarena eher als Ausschlußkriterium fungiert, denn dort gibt Mephistopheles mittlerweile den Takt vor: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft.“ 

Die zwanzig Kapitel, die Nagel benötigt, um den abgrundtiefen, beinahe unüberbrückbaren Graben zwischen dem mittelalterlich-islamischen und dem neuzeitlich-europäischen Welt- und Menschenbild akkurat zu vermessen, dürften in diesem notorisch denk- und lesefaulen Milieu daher als Zumutung zurückgewiesen werden.

Das Werk ist als Handbuch konzipiert und entsprechend zu nutzen. Es gibt auf alle für die Auseinandersetzung mit dem Islam politisch relevanten Fragen erschöpfende, auf Kreuzworträtselwissen fußende Mediengerüchte über den Islam zerstäubende Antworten: Wer war Mohammed? Was ist der Koran? Was ist das Hadith? Was ist die Scharia? Was lehrt der Islam über das Jenseits? Was sind Imamat, Kalifat und Sultanat? Was ist der Dschihad? Was sind Sunniten, was Schiiten? Was versteht der Muslim unter Religion? Wie sieht der Islam den Menschen? Was ist Sufismus, islamischer Rationalismus, Salafismus? Wovon berichten die „großen Erzählungen“ des Islams? Wie sieht der Islam die Nicht-Muslime? Was lehrt der Islam über die Frauen und die Ehe? Und schließlich Nagels scharfzüngige Kritik an die Kollegen vom Schlage Colpe und Rohe: Was ist Islamwissenschaft?

Wie es sich gehört, geht Altmeister Nagel ins religionshistorische und theologische Detail. Was für den vom Islam bedrängten Europäer den Aufklärungs- und Gebrauchswert dieser Enzyklopädie dann leider etwas mindert, wenn ihm die Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten oder die Gegensätze zwischen Sufismus und Salafismus bis in die feinsten Verästelungen hinein erklärt werden. Also empfiehlt es sich, die Lektüre dort zu beginnen, wo der Emeritus aus den Medien Vertrautes traktiert. Dafür eignet sich ideal das Unterkapitel: „Die häufigsten Irrtümer über den Islam.“ Ist der Islam wirklich, wie seine Apologeten unermüdlich beteuern, „Friede“, ist er die Religion der „Toleranz an sich“? Und welches Wahrheitsgewicht bringt der Klassiker auf die Waage: „Mit dem Islam hat der Islamismus nichts zu tun“?

Den Menschen bleibt nichts, als zu gehorchen 

Nagel räumt souverän mit diesen Litaneien zur Täuschung der nicht-muslimischen Welt auf. Islam sei kein Synonym für Frieden, denn seit Beginn der islamischen Geschichte sei Allahs Daseinsordnung mit Waffengewalt und Drohungen durchgesetzt worden. Damit erledigt sich zugleich das demagogische Geschwafel vom „Mißbrauch“ des friedlichen Islam durch den gewalttätigen Islamismus. Und die angebliche Toleranz des Islams bedeute nur, daß Bekennern der Schriftreligionen, Juden und Christen, im islamischen Gemeinwesen Schutz gewährt werde. Sie genießen das Recht auf Leben, Eigentum und eine möglichst im Verborgenen auszuübende Religionspraxis. Mit der Religionsfreiheit des Grundgesetzes habe das nichts zu tun, denn die „Schützlinge“ sind Bürger zweiter Klasse, deren Religion zum Verschwinden gebracht werden solle. Zumal sie aus muslimischer Sicht ohnehin auf dem Aussterbeetat stehe, weil der Islam als letzte Stufe auf dem Weg zu reiner monotheistischer Gottesverehrung Judentum und Christentum in sich aufgenommen habe. Gern griffen die christlichen Kirchen diese Mär von den eng verwandten drei „abrahamitischen“ Religionen auf, um den „Dialog“ zu fördern. Die Verwandtschaftsfiktion pflegten Kirchenfunktionäre nicht zuletzt deshalb, weil sie ihren Wunschtraum einer unproblematischen Integration von Muslimen in westliche Gesellschaften nähre.

Offensichtlich hat man im europäischen Appeasement-Lager keine Ahnung vom Gottesverständnis des Islams. Allah ist der Schöpfergott, der alles Geschehen in der Welt schafft und bestimmt. Aber nicht wie der christliche Gott, der sich nach sechs Tagen ausruht und seine Geschöpfe in eine relative Freiheit entläßt. Allah gönnt sich keine Pause, nie, er schafft in jeder Sekunde unablässig fort und steuert in jedem Augenblick das Schicksal der Welt und jedes einzelnen Geschöpfes. Allah, so droht der von ihm seinem Propheten Mohammed wortwörtlich diktierte Koran, höre, sehe, wisse alles, was die Menschen tun, auch weil er Engel beauftragt habe, sie zu überwachen. Wie in George Orwells Staat des Großen Bruders oder Mao Tse-tungs Paradies der „Großen Gemeinsamkeit“ ist das Ende des Individuums, die radikale Negation von Selbstbestimmung, der islamischen Daseinsordnung systemimmanent. Den Menschen bleibt nichts, als zu gehorchen.

Korrekt übersetzt bedeute Islam daher mehr als Unterwerfung, nämlich „sich vollständig weggeben“, Übergabe der ganzen Person an Allah. Ein Austritt aus dieser festgefügten Gemeinschaft der Gläubigen gilt deshalb als todeswürdiger Hochverrat und ist nur um den Preis ewiger Verdammnis möglich. Einen Weg in die säkularisierte Gesellschaft gäbe es für Muslime daher nicht, wie das der von Nagel zitierte Rektor der al-Azhar-Hochschule im März 2016 vor Bundestagsabgeordneten konsequent kompromißlos klarstellte. 

Tilman Nagel: Was ist der Islam? Grundzüge einer Weltreligion, Verlag Duncker & Humblot, Berlin 2019, gebunden, 694 Seiten, 39,90 Euro