© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Ländersache: Nordrhein-Westfalen
Kein Schwein gehabt
Karsten Mark

Anfang Mai noch hatte der ostwestfälische Unternehmer Clemens Tönnies die Flucht nach vorn gewagt: Als in Schlachthöfen der Unternehmensgruppe „Westfleisch“ im Münsterland und im Ruhrgebiet fast 300 Corona-Infizierte entdeckt worden waren und Nordrhein-Westfalens Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) daraufhin Corona-Tests für sämtliche Schlachtbetriebe des Landes angeordnet hatte, warf Tönnies dem Minister vor, die gesamte Fleischwirtschaft unter Generalverdacht zu stellen: Laumanns Kritik an den Arbeitsbedingungen in den Schlachthöfen dürfe „nicht zur Manie werden“. 

Sechs Wochen später wird nun klar: Laumann hatte mit seinen Bedenken recht. Tönnies, überregional als langjähriger Aufsichtsratsvorsitzender des Fußball-Bundesligisten FC Schalke 04 bekannt, besitzt in Rheda-Wiedenbrück (Kreis Gütersloh) nun nicht mehr nur den größten Schweineschlachtbetrieb Deutschlands, sondern verantwortet auch den aktuell schlimmsten Corona-Ausbruch Europas. Über 1.550 seiner insgesamt etwa 7.000 Beschäftigten waren bis Mitte der Woche positiv auf das Sars-CoV-2-Virus getestet worden.

Daß sich das Virus so stark in der Belegschaft verbreiten konnte, dürfte mit den besonderen klimatischen Bedingungen in den Kühlhäusern, aber auch mit den beengten Arbeits- und Wohnverhältnissen der Beschäftigten zusammenhängen. Sie kommen überwiegend aus Osteuropa und sind über Subunternehmer und sogenannte Werkverträge beschäftigt, also als Leiharbeiter. Der Arbeitgeber spart so erheblich an Lohnkosten und Sozialabgaben. Die Subunternehmer wiederum organisieren meist auch die Unterbringung der Leiharbeiter, was oft auf reine Schlafplätze hinausläuft – möglichst viele pro Wohnung.

Wie und wo genau diese Arbeiter leben, hatte bislang offenbar niemanden bei Tönnies näher interessiert. Schon die Aufstellung von Adreßlisten erwies sich als zeitraubendes Problem. So zog der 64jährige Konzernchef, der sein Familienunternehmen gemeinsam mit Neffe Robert Tönnies leitet, den geballten Unmut von Politik und Verwaltung auf sich, als es ihm zunächst nicht gelang, vollständige Daten zu beschaffen. Die behördlich angeordneten Quarantänemaßnahmen für sämtliche Beschäftigte konnten dadurch nur teilweise greifen. Höchstwahrscheinlich hatten sich viele Arbeiter bereits in ihre rumänische oder bulgarische Heimat abgesetzt.

SPD-Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach warnte unterdessen vor freiem Reiseverkehr für Bürger aus der betroffenen Region. Wie die Bild-Zeitung berichtet, wurde bereits ein Ehepaar aus dem Kreis Gütersloh von Behörden in Mecklenburg-Vorpommern aufgefordert, die Insel Usedom vorzeitig zu verlassen. Laut einer entsprechenden Landesverordnung dürfen Personen nicht einreisen oder bleiben, die aus einem Landkreis kommen, in dem sieben Tage vor Einreise die Zahl der Neuinfektionen bei mehr als 50 pro 100.000 Einwohner liegt.

Am Dienstag mußte Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) dann verkünden, was er eigentlich vermeiden wollte: einen neuen Corona-„Lockdown“. Nun gelten in Gütersloh wieder die gleichen Regeln wie während der bundesweiten Kontaktverbote im März; also kein Sport und keine Kultur in geschlossenen Räumen.