© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Der Druck von außen
Extremismus II: Seehofer sagt die Vorstellung des Verfassungsschutzberichts ab / Läßt sich der Nachrichtendienst von gesellschaftlichen Erwartungen lenken?
Christian Vollradt

Ungewöhnlich spät kam der Hinweis aus dem Bundesinnenministerium: „Der Termin zur Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2019 wird für morgen abgesagt“, teilte die Pressestelle am Montag abend um Viertel vor zehn mit. Dreizehn Stunden später hätte Ressortschef Horst Seehofer (CSU) gemeinsam mit Verfassungsschutz-Präsident Thomas Haldenwang den Bericht der Behörde der Hauptstadtpresse vorstellen sollen. Eigentlich. Warum nicht? Eine Begründung lieferte das Ministerium nicht. 

War man sich nicht sicher, vor dem Berliner Verwaltungsgericht Erfolg zu haben? Die Juristen dort entschieden am Dienstag vormittag jedoch, daß keine Schwärzungen nötig sind: Die Identitäre Bewegung (IB) darf als „gesichert rechtsextrem“ eingestuft werden. Die Richter wiesen den Antrag der Gruppierung ab, dies vorerst zu unterlassen. Die zentrale Forderung der IB „nach dem Erhalt der ethnokulturellen Identität“ verstoße gegen die Menschenwürde, „weil hierdurch einzelne Personen oder Personengruppen wie Menschen zweiter Klasse behandelt würden“, hieß es in der Begründung der Richter.  

Warum also dann die Absage? Einen Hinweis könnten zwei andere Verfahren geben, in denen das Bundesinnenministerium juristische Erfolge verbuchte. So dürfen sowohl die „Junge Alternative“ (JA) als auch der „Flügel“ der AfD im Verfassungsschutzbericht 2019 als Verdachtsfälle aufgeführt werden, entschied das Oberverwaltungsgericht Berlin am vergangenen Freitag. Ebenso sei es rechtmäßig, das geschätzte rechtsextremistische Personenpotential (etwa 7.000 „Flügel“-Leute plus rund 1.600 JA-Mitgleider) in die entsprechende Statistik des Berichts aufzunehmen. Dies wächst dadurch gegenüber dem Vorjahr um 8.000 auf nun insgesamt 32.000 Personen. Problematisch jedoch: Aus den Unterlagen zu dem Verfahren geht hervor, daß sich das Ministerium und die ihm nachgeordnete Behörde uneins in der Behandlung von „Flügel“ und JA waren. 

Ursprünglich wollte Seehofers Haus im Verfassungsschutzbericht kein gesondertes Kapitel zu den beiden Verdachtsfällen einrichten. „Flügel“ und JA hätten nur erwähnt werden sollen, wenn sie zwischenzeitlich als „gesichert rechtsextremistische Bestrebung“ eingestuft würden. Das wurde der – inzwischen aufgelöste – „Flügel“ erst im März dieses Jahres, also nach dem Berichtszeitraum 2019. Die JA wurde nicht zum „Beobachtungsfall“ heraufgestuft. 

In Schreiben vom 30. September und noch einmal vom 10. Dezember hatte indes das Bundesamt gegenüber dem Innenministerium „nachdrücklich angeregt“, die beiden Teilorganisationen der AfD als Verdachtsfälle aufzuführen und die beabsichtigte „Hochstufung“ des „Flügels“ in einer Fußnote zu erwähnen. Die Begründung der Beamten ist bemerkenswert: Ein Nichterwähnen der Verdachtsfälle würde „auf Unverständnis bei Politik, Medien und Öffentlichkeit stoßen“. Das zeige schon die bisherige breite Resonanz in der Berichterstattung zum „Flügel“. 

Linksextreme bilden „terroristische Strukturen“

Die Inlandsnachrichtendienstler argumentierten also in erster Linie politisch und anhand einer (angenommenen) Erwartungshaltung des Publikums. Und sie überzeugten damit das übergeordnete Ministerium, das zunächst streng nach rechtlichen Maßstäben Zurückhaltung geboten sah. 

Naheliegend, daß dies nach Bekanntwerden durch einen Bericht des Redaktionsnetzwerks Deutschland unangenehme Nachfragen für Seehofer und Haldenwang zur Folge gehabt hätte. AfD-Parteichef Tino Chrupalla übte am Dienstag heftige Kritik: Der „Beifall von Medien und Altparteien ist dem Verfassungsschutz wichtiger als das geltende Recht“, empörte sich der Bundestagsabgeordnete. 

Bekannt wurde auch ohne Vorstellung unter anderem, daß der Verfassungsschutz eine deutliche Radikalisierung der linksextremistischen Szene feststellte. Demnach sei eine Herausbildung „terroristischer Strukturen“ möglich. Auch „gezielte Tötungen“ politischer Gegner würden billigend in Kauf genommen.  

Unterdessen wies ein Sprecher der IB gegenüber der JUNGEN FREIHEIT den Vorwurf zurück, die Gruppe strebe eine „ethnische Reinheit“ an. „Derartige Phantasien“ seien nie Teil der Programmatik gewesen. Man prüfe nun eine Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht.