© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Das verbotene Wort
Sprachwissenschaft: Mit der Diskussion um das Wort „Rasse“ schreitet die Errichtung ideologisch begründeter Tabuzonen voran
Dietmar Mehrens

Im Zeitalter von Gender-Neusprech, Kinderbuch- und Sarotti-Mohr-Revisionen mußte es wohl so weit kommen: Die Integrationsbeauftragte Annette Widmann-Mauz (CDU) will das Wort „Rasse“ aus dem Grundgesetz tilgen. Ihr Argument ist wortgleich den bekannten linken Denk- und Diskursmustern oder wahlweise auch dem in Orwells „1984“ porträtierten Gehirnwaschfaschismus zu entnehmen: „Sprache prägt unser Denken.“

Es leuchtet freilich nur bedingt ein, warum dann „Rasse“ ausgemerzt werden soll, der „Rassismus“ aber überleben darf. Das ist logisch betrachtet in etwa so, als würde  man das Huhn ausrotten, aber weiterhin Eier essen wollen. Und warum benötigt eine liberale Gesellschaft auf einmal dogmatische Sprechtabus, durch die in einer Art Vorauswahl darüber befunden werden kann, was ein zulässiges Streitthema ist und was nicht? Ist das Tabu, das wir aus archaischen Stammeskulturen kennen, überhaupt eine demokratische Kategorie?

Neben der brisanten Frage nach dem Verhältnis zwischen Sprache und Macht ergeben sich auch fachliche, das heißt linguistische Problemfelder. Schon der von radikalen Feministen propagierte Genderismus, der bei positiv konnotierten Nomen weibliche Varianten oder das neutrale Partizip I („Studierende“) durchzusetzen bestrebt ist, rief Kritiker wie den Potsdamer Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg auf den Plan.In einem Interview mit dem Deutschlandfunk wies er 2017 auf die mit dem Partizip I verbundene Vorstellung kontinuierlicher Verläufe hin und warnte vor einer „Sprachmanipulation“, „die nicht hingenommen werden kann“.

Die von Eisenberg bemängelten Übergriffe führen in die für ideologisch Vereinnahmte verbarrikadierten Gefilde der Sprachphilosophie, in Ferdinand de Saussures Modell vom signifié und signifiant. Ein sprachlicher Ausdruck, so die Theorie, entsteht dadurch, daß der Mensch in seiner Umwelt etwas wahrnimmt, das zu Bezeichnende („signifié“), und dafür dann, um innerhalb des Sozialverbands über dieses wahrgenommene Phänomen kommunizieren zu können, eine sprachliche Bezeichnung findet: das Bezeichnende („signifiant“). Leuchtet die Bezeichnung auch den anderen Sprachverwendern ein, wird sie übernommen, internalisiert als Eintrag in dem Lexikon, das jeder unsichtbar in seinem Gehirn mit sich herumträgt. 

Ende des 20. Jahrhunderts unternahm die Duden-Redaktion einen linguistischen Großversuch, der viel aussagt darüber, wie dieses Lexikon funktioniert und wie nicht: Unter Zuhilfenahme der Medien, namentlich des Rundfunks, wurde in einer konzertierten Aktion versucht, das Kunstwort „sitt“ in der deutschen Sprachgemeinschaft zu verankern. Das Ansinnen leuchtete ein: Es gab und gibt im Deutschen ein Wort für das signifié „Zustand des Genuggegessenhabens“, aber es gab kein analoges für „Zustand des Genuggetrunkenhabens“. Zu „satt“ sollte sich „sitt“ gesellen, das 1999 als Siegerwort aus einem Wettbewerb hervorgegangen war. Doch das Experiment scheiterte. Die Sprachverwender mochten sich nicht an das neue Wort gewöhnen.

Das Ergebnis war vorhersehbar: Eine Sprachgemeinschaft findet und prägt ein neues signifiant, wie zum Beispiel „E-Mail“ und „Smartphone“, die Verben „mailen“ und „streamen“ oder auch, ganz frisch, „Corona“, wenn der technische Fortschritt oder die Weiterentwicklung der Gesellschaft ein neu zu Bezeichnendes hervorgebracht hat, über das zu reden ist. Analog sterben Wörter aus, wenn das, was sie bezeichnen sollen, in der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht mehr vorkommt wie etwa die nur noch als Familiennamen geläufigen Amtsbezeichnungen Schulz und Meier.

Das aus dem Französischen stammende „Billet“ konnte sich gegen das modischere „Ticket“ nicht behaupten. Für die parallele Verwendung der beiden Synonyme bestand in der Sprachgemeinschaft kein Bedarf. Das „Billet“ wurde in einem natürlichen Prozeß verdrängt – für etwas jedoch, das bereits seit langem und auch gegenwärtig immer noch vorhanden ist. Die Bezeichnung per Dekret abschaffen zu wollen oder künstlich durch die Genderpresse gedrückte Nomen in ihrer vergewaltigten Form („Arbeitnehmende“, NDR-Info) auf die Sprachgemeinschaft loszulassen wie ein Rudel nasser Hunde auf einen Aristokratenball, grenzt an Hybris und, wenn dies aus ideologischen Motiven geschieht, an Totalitarismus.

Manipulative Eingriffe in den Sprachgebrauch verweisen regelmäßig auf totalitäre Systeme und gemütskranke Gesellschaften, die dafür anfällig sind. Wenn Goebbels in seiner Sportpalastrede vor der Gefahr des „internationalen Judentums“ und der „Bolschewisierung Europas“ warnte, dann griff er dabei auf Worthülsen zurück, die er durch die Kontrolle des gesamten medialen Propagandaapparats selbst installiert hatte und gegen die es keinen Widerspruch mehr gab.

Durch ähnlichen Konformitätsdruck, wenn auch ohne die Daumenschrauben, die eine Diktatur anlegen kann, und unter umgekehrten ideologischen Vorzeichen ist es in der Bundesrepublik gelungen, Wörter wie „Mohrenkopf“ oder „Fräulein“ aus dem Sprachgebrauch zu verbannen. Das spornt diejenigen Kreise, die sich selbiges als Ziel auf die Fahnen geschrieben hatten, an, den Bürger auch weiterhin als Objekt der eigenen Erziehungsambitionen zu betrachten und zu behandeln, nicht aber als Souverän. Man spricht in solchen Fällen, eingedenk des Volkserziehungswahns von Frankreichs einstigem Chefguillotinisten Robespierre, einem der größten Sprachmanipulatoren übrigens, auch gern von Tugendterror. Passend dazu gebärden sich die Gleichheitsideologen der linksextremen Szene bei ihren Aufmärschen ähnlich apodiktisch wie Anfang der dreißiger Jahre die Nationalsozialisten auf ihren Fackelzügen. Wie im Führerstaat geht es auch im Egalitarismus um die Macht, durch die Ideologie in Wahrheit überführt werden kann.

Es stimmt traurig, daß selbst Politiker der vormals christlichen Unionsparteien diesen weiteren Winkelzug zur Demontage der freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht durchschauen.