© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Die Götter werden nicht mehr gebraucht
Welttheater: Richard Wagners „Walküre“ wurde vor 150 Jahren in München uraufgeführt
Eberhard Straub

Richard Wagner verabscheute den herkömmlichen Opernbetrieb mit seinen unvermeidlichen Mängeln. Er überließ ihm als Praktiker, der von 1843 bis 1849 in Dresden sogar ganz erfolgreich als Hofkapellmeister an der Königlichen Oper gewirkt hatte, dennoch seine musikalischen Dramen. Den „Ring des Nibelungen“ und „Parsifal“ wollte er allerdings mit Musteraufführungen allein den künftigen Festspielen vorbehalten.

König Ludwig II. war freilich viel zu ungeduldig und zu neugierig, um sich solchen Wünschen Richard Wagners anzupassen. Zu dessen äußerstem Ärger ordnete er für den Herbst 1869 die Uraufführung des „Rheingold“ an und plante für den kommenden Sommer 1870 die Uraufführung der „Walküre“. Jeden Widerspruch des aufgebrachten Komponisten behandelte Ludwig II. – ganz verletzte Majestät – als schamloses Betragen des Theatergesindels, zu dem er vorübergehend auch Wagner rechnete.  

Richard Wagner kam nicht nach München, wo am 26. Juni 1870 im Königlichen Hof- und Nationaltheater „Die Walküre“ nach einer Aufführung des „Rheingold“ folgte. Der König nahm daran nicht teil, vielleicht, weil er es nach den Mißverständnissen vorzog, Wagner nicht zu begegnen, wahrscheinlich aber, weil der zu erwartende Krieg mit Frankreich es ihm unmöglich machte, ostentativ dem im politischen München umstrittenen Meister und seiner Kunst zu huldigen. Die Aufführung wurde begeistert von einem internationalen Publikum – viele Franzosen darunter – aufgenommen. Nach den spektakulären Triumphen von „Tristan und Isolde“ 1865 und „Die Meistersinger von Nürnberg“ 1868 war München nun endgültig zu einer besonderen Wagnerstadt geworden. 

Beginn einer neuen Folge von Weltgeschichten

„Die Walküre“ ist der beliebteste und populärste Teil der „Ring“-Tetralogie. Er wurde wie eine selbständige Oper dem Repertoire eingefügt und relativ häufig für sich allein als Leckerbissen für das Ohr und Balsam für die Seele dem Publikum angeboten. Gelegentlich wurde sogar nur der erste Akt konzertant aufgeführt, in dem einzelne Passagen oder Szenen Sänger und Hörer wie brillante Nummern einer prächtigen Spieloper auffaßten.Das Münchner Beispiel schuf eine fatale Tradition, die sich aber auch ohne dieses Vorbild wohl oder übel ergeben hätte. Der Großstädter, von allerlei miteinander konkurrierenden Unterhaltungsangeboten bedrängt, verfügt gar nicht über die Zeit, sich eine ganze Woche lang nur auf den „Ring“ zu konzentrieren, und vor allem nicht über die ausgeruhten Nerven, diesen anspruchsvollen Dramen mit äußerster Aufmerksamkeit zu folgen. 

Deshalb sollte er ja in die klassische Idylle um das Festspielhaus nach Bayreuth reisen, um sich, fern vom Lärm der immer aufgeregten Zeit, mit dem großen Spiel vom Anfang der Geschichte, ihren Widersprüchen bis hin zum Ende der Geschichte auseinanderzusetzen. Das Ende bedeutet zugleich den Aufbruch in einen neuen Weltenzyklus. Untergänge sind Übergänge, im Anfang liegt das Ende, aber dieses ist der Beginn einer neuen Folge von Weltgeschichten. Richard Wagners „Ring“ ist in diesem Sinne großes Welttheater. „Der Untergang des Abendlandes“ – diese suggestive Formel Oswald Spenglers – wurde von Richard Wagner dramatisiert, der sich vor dem Untergang gar nicht fürchtete. Warum auch? 

Wotan kann die Welt nicht mehr schützen

Die Geschichte Europas beginnt mit dem Untergang des prächtigen Troja. Sie ist eine einzigartige Geschichte glänzender Aufbrüche und schrecklicher Katastrophen. Aeneas rettete sich aus den Trümmern seines besiegten und in Schutt und Asche gelegten Vaterlandes nach Italien. Der Trojaner wird der  Stammvater der weltbeherrschenden Römer. Einer der edelsten Römer, der weise Staatsmann, kluge General und feinsinnige Aristokrat Publius Cornelius Scipio Aemilianus hatte Karthago 146 v. Chr. endgültig besiegt und verwüstet. Vor den Ruinen Karthagos erinnerte er sich der Trümmer Trojas und ahnte, daß auch Rom nicht ewig dauern werde und ähnlich wie Troja oder Karthago irgendwann einmal nur noch als eine Phantasie im Gedächtnis ferner Generationen überlebe. Der tatsächliche Untergang Roms blieb unvergessen. Die Europäer wußten immer, daß ihre Welt vergänglich sein werde und einem umfassenden Zusammenbruch nicht entrinnen könne.

„Ihrem Ende eilen sie zu, / die so stark im Bestehen sich wähnen“, verheißt Loge den Göttern, als sie frohgemut und scherzend am Schluß von „Rheingold“ über die Regenbogenbrücke nach Walhalla aufbrechen. Der Regenbogen ist ein Hinweis auf friedliche Ordnung und den Zusammenhang von irdischer Welt und der göttlichen Sphäre. Doch der Schein trügt. Denn die feste, prangende Burg ist das Symbol für die Götterdämmerung, für den kommenden Umsturz der rechtlichen Ordnung, die Wotan eingerichtet hatte.

In der „Walküre“ gelangt der Weltenherrscher zu der bitteren Erkenntnis, diese nicht mehr schützen zu können. Er fügt sich widerstrebend und dann entschlossen in das unausweichlichen Ende, ja wünscht es herbei. Die Weltgeschichte ist dem bösen Geist unterworfen und damit dem Neid, der Mißgunst, dem Machtstreben und der Gewalt. Sie wird bewegt von der Lieblosigkeit, von der Gier nach Geld, das Macht verleiht und alle menschlichen Beziehungen seiner Herrschaft unterwirft. 

Vor aller Geschichte liegt das Goldene Zeitalter, in dem das Gold noch nicht Geld war, sondern glänzender Tand. Diesen glücklichen Urzustand verlegt Wagner in den Rhein, in das Wasser, in das Element, aus dem alles Leben kommt, in dem verspielt Eros, die Liebe, waltet, mit der alles begonnen. Wer auf die Liebe verzichten kann, dem gelingt es freilich „zum Reif zu zwingen das Gold“ und allmächtig zu werden. Alberich verflucht die Liebe, er raubt das Gold, das nun zum Geld wird. Eigentum ist Diebstahl, wie es der französische Ökonom und Soziologe Pierre-Joseph Proudhon (1809–1865) einprägsam formulierte. Es ermöglicht die Enteigung anderer in Nifelheim, die rastlos ihrem Zwingherren zu dienen haben, um dessen Macht und Reichtum maßlos zu steigern. Jeder, der mit dem Ring in Berührung kommt, verfällt dem Machtstreben, dem Egoismus und wird zum Betrüger. 

Wotan, der mit List Alberich den Ring abgewann, wird zu einem schachernden Politiker gerade nachdem er den Ring den Riesen abtreten mußte als Lohn, daß sie ihm Walhalla gebaut hatten. Er muß sich als Rechtshüter an seine Ordnung halten und kann doch nur versuchen, indem er das Recht verletzt, den Ring seinen wechselnden Besitzern wieder zu rauben. Er mag nicht dem Recht gehorchen und kann doch nicht willkürlich herrschen.

Für die Verlockungen des Bösen wurde Wotan anfällig, weil seine Ehe mit Fricka eine lieblose Vernunftehe war. An den Ehevertrag mochte er sich so wenig halten wie an die Arbeitsverträge mit den Riesen. Die Vertragsbrüche werden zum großen Motor der Geschichte, die ein Drama der Lieblosigkeiten ist und allein durch die Liebe von ihrem Elend erlöst werden kann. Die Ehe Hundings mit Sieglinde war erzwungen. Verheißungsvoll ist die spontane Liebe der beiden Geschwister Siegmund und Sieglinde, die ein Bruch mit Sitte und Anstand ist, aber auch ein Durchbruch zu vollständiger Freiheit jenseits aller willkürlichen und liebeleeren Konventionen, Regeln und Gesetze. 

Liebe vernichtet böses Geld und böse Macht

Wotans Tochter, die Walküre Brünnhilde, soll Siegmund, den Verbrecher, bestrafen. Doch sie ist so überwältigt von der reinen Liebe unter diesen beiden Menschen, daß sie sich Wotans Willen widersetzt. Ihr wird von Wotan ihre göttliche Natur genommen, und sie muß künftig als Mensch unter Menschen leben. Was einem Fluch gleicht, gerät ihr und der Welt zum Heil. Siegfried, das Kind freier Liebe von Sieglinde und Siegmund, erweckt in ihr die Liebe, die sie zum Menschen macht, zum wahren, liebenden Menschen. Die Liebe ermöglicht die Freiheit und verwandelt damit Menschlichkeit in Mitmenschlichkeit. Der Ring vermag über beide nichts. Sie folgen selig der Liebe Macht, neben der alles nichtig ist. Sie geben dies Unterpfand ihrer Liebe aber nicht den Rheintöchtern zurück. 

Darin liegt ihre Schuld, aber eine rettende Schuld, denn dadurch beschleunigten sie das Ende der korrupten Wotanswelt, der bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Zwängen, die Siegfried und Brünnhilde nichts bedeuteten. Sie stimmten darin mit Wotan überein, der seine Vernichtung erwartete in Erwartung einer neuen Ordnung, in der das Geld wieder zum Gold wird, zum heiteren Spielzeug der Rheintöchter, zu machtlosem Zierat, der Freude mit seinem Glanz und Frieden bewirkt. Die Geschichte endet in einer Katastrophe, im Untergang des Abendlandes.

Aber es ist, wie Richard Wagner andeutet, ein hehrstes Wunder geschehen, weil freie Liebe den verlockenden Zauber des bösen Geldes und der bösen Macht vernichtet hat. Der Gott ward Mensch und hat als Brünnhilde unter uns gewohnt. Das vollendete Reich der Freiheit und Liebe wird als ein neuer Weltentag aber hier auf Erden anbrechen, in dem die Liebe untereinander die Götter ersetzen, die nun nicht mehr gebraucht werden.