© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Deutschland braucht die Nato – und die Nato braucht Deutschland
Viel besser mit als ohne
Georg Pazderski

Die jüngste Ankündigung eines verärgerten US-Präsidenten Donald Trump, Truppen aus Deutschland abzuziehen, wird in diesen Tagen in der gesamten Nato heiß diskutiert. Die Bundesrepublik gilt in den Augen der Amerikaner zunehmend als unzuverlässiger Partner, der seine Bündnisverpflichtungen nicht mehr hinreichend erfüllt. Dies liegt nicht nur an der kaputtgesparten Bundeswehr, sondern auch an der durchaus verbreiteten Ansicht, die Nato sei ein Auslaufmodell oder sogar eine Gefahr für den Frieden. Manche politischen Kreise träumen entweder davon, daß die EU künftig die Aufgaben der Nato übernimmt oder Deutschland eine Art pazifistischer Gleichgewichtspolitik zwischen Ost und West betreibt. Andere sehnen sich nach einer engeren Anlehnung an Rußland, das sie oft sehr unkritisch sehen.

Richtig ist, daß die USA unser wichtigster Verbündeter sind und Deutschland mit ihrem atomaren Schirm schützen. US-Militärpräsenz und nukleare Abschreckung sichern seit über 70 Jahren den Frieden und die Freiheit in Mitteleuropa. Daß die Regierung Merkel dieses Pfund nun ohne Not verspielt, legt ein weiteres Mal ihr politisches Koordinatensystem offen. Die Kanzlerin ist der vehementeste Verfechter der weltfremden Träume der internationalistischen Linken. Mit ihrem politischen Irrweg schadet sie massiv den deutschen Interessen und bugsiert unsere Heimat immer weiter in Richtung DDR 2.0.

Natürlich muß Deutschland auch daran gelegen sein, gute Beziehungen zu Rußland zu unterhalten. Ohne Einbeziehung Rußlands wird es keine Sicherheit auf unserem Kontinent geben. Aber wir müssen auch zur Kenntnis nehmen, daß insbesondere in Mittel-Osteuropa und in den baltischen Staaten die russische Politik gegenüber Georgien, der Ukraine und Moldawien als aggressiv wahrgenommen wird und tiefsitzende Ängste in diesen Ländern geweckt hat. Vom militärisch überaus potenten Rußland Zurückhaltung gegenüber seinen Anrainern zu fordern und denen, die Rußland mit Sorge sehen, nicht in den Rücken zu fallen, ist keine „Aggression“, sondern eine Sache der Vernunft und der Friedenssicherung.

Tatsache ist: Wir haben vielfältige Bindungen an unsere unmittelbaren Nachbarn in Europa und langjährige enge Verbindungen zu den USA. Unsere Beziehungen sind nicht nur wirtschaftlicher Natur, sie beruhen nicht nur auf ähnlichen politischen und gesellschaftlichen Grundüberzeugungen, sondern sie haben auch eine Sicherheitskomponente. Die Mitgliedschaft in der nordatlantischen Allianz hat es Deutschland über Jahrzehnte ermöglicht, sich international zu vernetzen, freundschaftliche und stabile Beziehungen aufzubauen, den Frieden in der Mitte Europas mittlerweile fast 75 Jahre lang zu wahren und von der militärischen Stärke und dem Schutz der Nato-Partner, insbesondere aber den USA, zu profitieren.

Die Mitgliedschaft Deutschlands in der Nato war und ist für uns und unsere Nachbarn die Gewähr dafür, daß Deutschland sich militärisch nicht isoliert und einen Sonderweg einschlägt, sondern Teil eines politisch-militärischen Bündnisses ist. Durch die gemeinsame Mitgliedschaft sind Deutschland und seine Nachbarn eng miteinander verbunden. Das ist eine wichtige Grundlage für eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Dieses über Jahrzehnte aufgebaute Vertrauenskapital darf nicht leichtfertig verspielt werden. Die Mitgliedschaft in der Nato hat weder – wie seinerzeit manchmal behauptet wurde – die Deutsche Einheit blockiert, noch belastet sie die Beziehungen unseres Landes zu Staaten, die nicht dem Verteidigungsbündnis angehören. Sie gibt vielmehr – besonders wenn sie von der Bundesregierung klug genutzt würde – Deutschlands Stimme zusätzliches internationales Gewicht. In der fragilen derzeitigen globalen Lage ist die Nato bei allen Schwächen, die sie zweifellos hat und die dringend einer Überprüfung bedürfen, ein Stabilitätsanker.

Je besser die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Rahmen der Nato ist, je klarer und verläßlicher wir unsere Rolle im Bündnis wahrnehmen und unseren Verpflichtungen nachkommen, desto deutlicher können wir auch Forderungen stellen. 

Das seit dem Beitritt zur nordatlantischen Allianz gewachsene Grundvertrauen in Deutschlands Zuverlässigkeit ist die unerläßliche Voraussetzung dafür, daß wir endlich selbstbewußter als bisher unsere eigenen Interessen im Bündnis formulieren, wie die AfD es seit langem fordert. Je besser die Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn im Rahmen der Nato ist, je klarer und verläßlicher wir unsere Rolle im Bündnis wahrnehmen und unseren Verpflichtungen nachkommen, desto deutlicher können wir auch Forderungen stellen und unsere eigenen Positionen in die Diskussion einbringen, wie das zum Beispiel die USA, Großbritannien und sogar Frankreich mit größter Selbstverständlichkeit tun.

So ist es Frankreich nach vielen Versuchen endlich gelungen, Deutschland in einen innerafrikanischen Konflikt hineinzuziehen. Der Einsatz in Mali, in den Deutschland aus falsch verstandener Solidarität gegenüber Frankreich hineingeraten ist, dient allen Behauptungen der Bundesregierung zum Trotz nicht deutschen, sondern ausschließlich französischen Interessen. Am Ende ist die einzige deutsche Rechtfertigung dafür, daß man durch die Beteiligung an Maßnahmen – wie auch schon in Afghanistan oder Syrien – irgendwie das Bündnis erhält. Das ist zu wenig.

Wer die Nato verlassen will, wer glaubt, er müsse Rußland den Hof machen, der weckt Zweifel an Deutschlands Zuverlässigkeit. Ein Austritt aus dem nordatlantischen Bündnis würde unsere Außen- und Sicherheitspolitik nicht freier machen, sondern unseren Bewegungsspielraum und unseren internationalen Einfluß deutlich einschränken und uns schwächen, weil wir ständig dem Argwohn der ehemaligen Bündnispartner, insbesondere dem unserer unmittelbaren Nachbarn ausgesetzt wären. Er würde nicht zu mehr, sondern zu weniger Sicherheit in Europa führen. Deutschland würde nicht mehr vom gegenseitigen Schutz der Bündnispartner und dem atomaren Schutzschirm der USA profitieren. Der dann unvermeidliche Abzug der verbliebenen amerikanischen Truppen und Einrichtungen würde Rußland die Möglichkeit eröffnen, mehr Druck auf Deutschland auszuüben.

Selbstbewußt auftreten und Einfluß nehmen kann in der Nato aber nur derjenige, der zur Stärke des Bündnisses beiträgt und seine Verpflichtungen erfüllt. Die letzten Bundesregierungen haben das Gegenteil getan. Mit der Aussetzung der Wehrpflicht und der fortgesetzten personellen, materiellen und moralischen Demontage der Bundeswehr unter Bundesministern der CDU und CSU ist der Einfluß Deutschlands im Bündnis deutlich geschrumpft. Wer nur ein Fliegengewicht auf die Waage bringt, wird von den Schwergewichten nicht ernst genommen und erdrückt.

Wer zwar wie die Bundesregierung bei internationalen Tagungen hehre Treuebekenntnisse zur Nato abgibt, anschließend aber zu Hause aus populistischen Gründen die Zusagen nicht einhält, verliert die Glaubwürdigkeit und verspielt seinen Einfluß. So hatte der damalige Bundespräsident Joa­chim Gauck schon im Jahre 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz gefordert, daß Deutschland mehr Verantwortung übernehmen müsse. Bei der Sicherheitskonferenz in diesem Jahr, sechs verlorene Jahre später, gab die derzeitige Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer zu, daß man diese Forderung noch längst nicht erfüllt hat. Aus einem „Konsens der Worte“ müsse ein „Konsens des Handelns“ entstehen. Doch ihren Koalitionspartner hat die Ministerin bisher nicht davon überzeugen können, der Bundeswehr die international immer wieder versprochenen Mittel zur Verfügung zu stellen.

Die Folge sehen wir Tag für Tag. Je schwächer die Bundeswehr ist, desto weniger kann Deutschland die Politik der Nato beeinflussen und im Bündnis eigene Interessen vertreten. Die Bundesregierung ist in der Nato längst kein Mitgestalter mehr, sondern nur noch Mitläufer. Beflissenheit, Leisetreterei oder sogar Schweigen sind an der Tagesordnung. Man schwimmt mit, bemüht sich nicht anzuecken, auch wenn den Verantwortlichen in Deutschland natürlich der Kontrast zwischen Erwartungen und Möglichkeiten der Bundeswehr sehr wohl bewußt ist. Deutsche Welterlösungsbekenntnisse, ob beim Klimaschutz, bei der Durchsetzung der Menschenrechte oder bei der Friedenssicherung werden im Ausland nicht mehr ernst genommen, wenn die militärischen Möglichkeiten reduziert sind.

Deutschland braucht endlich wieder eine einsatzbereite, politisch unterstützte Bundeswehr, die im Bündnis verankert ist und ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen kann. Je mehr das gegeben ist, desto größer ist der deutsche Einfluß

in der Nato. 

Weil die Bundesregierung außer internationalistisch klingenden Festtagsreden zur Verteidigung kaum noch etwas auf die Beine stellen kann und kein Selbstbewußtsein zeigt, macht unser Land auch bei unsinnigen Aktionen mit wie in Syrien, Afghanistan oder Mali. Unsinnig sind solche Aktionen trotz ihres humanitären Etiketts, weil nie ernsthaft definiert worden ist, welches Ziel man eigentlich mit der jeweiligen Intervention in welchem Zeitraum erreichen will und wie das mit den vorhandenen Mitteln gehen soll.

Mangels eines klaren Konzepts war vorhersehbar, wozu militärische Interventionen von wem auch immer zum Beispiel in Syrien führen würden: Massenarmut, ungebremste Flüchtlingswellen und unendliches Leid der Zivilbevölkerung. Wohl noch nie war Syrien in einem so erbärmlichen Zustand wie heute. Das liegt nicht allein, aber auch am Westen. Eine selbstbewußte Bundesregierung, die eine respektierte und einflußreiche Rolle in der Nato hat und aus einer Position der Stärke argumentieren kann, hätte ihren Verbündeten gegenüber klare Ziele, durchdachte Konzepte und verbindliche Zeitpläne abfordern müssen. Deutschland muß in der Nato wieder eine Stimme der Vernunft sein und nicht Trittbrettfahrer.

Es war zu keinem Zeitpunkt im deutschen Interesse, in einem Land wie Syrien auf der Grundlage von realitätsfernem Wunschdenken, schlechter Vorbereitung, unklaren Zielen und mangelnden Ressourcen einzugreifen. Unsere Freiheit wird weder am Hindukusch noch in Damaskus oder in Bengasi verteidigt. Im Gegenteil: Der internationale Truppeneinsatz dort hat uns über die Flüchtlingsströme zusätzliche gravierende Probleme im eigenen Land und EU-weit beschert.

Die Nato ist dazu da, die geographischen Räume auf beiden Seiten des Nordatlantiks zu schützen, soweit sie zu Staaten gehören, die Mitglied in der Nato sind oder Abkommen mit dem Bündnis haben. „Regime Change“ in anderen Teilen der Welt oder der Versuch, Demokratie und Menschenrechte nach westlichen Vorstellungen in vom Zusammenbruch bedrohten Staaten in Afrika, dem Nahen Osten oder sonstwo weit ab vom Nordatlantik zu transplantieren, gehören weder zum Mandat der Nato noch dienen sie bis zum überzeugenden Beweis des Gegenteils der Wahrung deutscher Interessen. Wenn Länder wie die Vereinigten Staaten von Amerika, Großbritannien oder Frankreich sich als globale Ordnungsmächte verstehen, sei ihnen das unbenommen, aber bitte außerhalb der Nato. Für Deutschland kann das jedenfalls kein Modell sein.

Deutschland braucht endlich wieder eine einsatzbereite, an Auftrag und Aufgaben ausgerichtete, angemessen dimensionierte, modern ausgestattete und von der Politik und der Öffentlichkeit unterstützte Bundeswehr, die im Bündnis verankert ist und ihre Bündnisverpflichtungen erfüllen kann. Je mehr das gegeben ist, desto größer ist der deutsche Einfluß in der Nato und desto mehr Gewicht hat die deutsche Stimme im internationalen Bereich. Wir brauchen zudem eine selbstbewußte deutsche Regierung, die ihre Auffassungen und Forderungen in die Nato einbringt, wie das auch andere Mitgliedsstaaten tun, statt den Bündnispartnern hinterherzulaufen, weil man Angst hat, zu falschen Entscheidungen „Nein“ zu sagen.

Unter der gegenwärtigen Bundesregierung ist weder das eine noch das andere gegeben. Das liegt aber nicht an der Nato, sondern an den politischen Machtverhältnissen in Deutschland. Wenn sich diese ändern und eine andere Bundesregierung die Außen- und Sicherheitspolitik wieder aus einer nationalen Perspektive, mit der klaren Formulierung deutscher Interessen betreibt, braucht niemand mehr die Mitgliedschaft unseres Landes in der Nato in Frage zu stellen.






Georg Pazderski, Jahrgang 1951, war von 1971 bis 2012 Berufssoldat, zuletzt als Oberst im Generalstabsdienst. Vor seinem Ausscheiden 2012 war er zwei Jahre Abteilungsleiter für Logistik im Allied Joint Force Command Lisbon der Nato in Portugal. Von 2005 bis 2010 leitete er die internationale Planungsgruppe des Kommandeurs US-Zentralkommando (USCentcom) in Tampa/Florida. Der Diplombetriebswirt ist Vorsitzender der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus.

Foto: Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Donald Trump auf dem Nato-Gipfel im Dezember 2019, Watford/Großbritannien: Die Bundesrepublik gilt in den Augen der Amerikaner zunehmend als unzuverlässiger Partner, der seine Bündnisverpflichtungen nicht mehr hinreichend erfüllt