© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 27/20 / 26. Juni 2020

Kein Spaziergang nach Paris
Der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm legt eine Arbeit zum Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 vor
Alexander Graf

Über kaum eine europäische Nation existieren so viele negative Klischees im Zusammenhang mit ihrer Kriegstauglichkeit wie über die Franzosen. So ist von US-General George S. Patton (1885–1945) der Ausspruch überliefert, er hätte lieber eine deutsche Division vor sich als eine französische hinter sich. Ein anderes Mal soll der berühmt-berüchtigte Panzergeneral geäußert haben, mit den Franzosen in den Krieg zu ziehen, sei wie mit einem Akkordeon auf die Entenjagd zu gehen. 

Ungeachtet solcher spöttischen Urteile aus dem 20. Jahrhundert wird darüber zu leicht vergessen, daß Frankreichs Armee bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als die beste in Europa galt. Doch nach dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 sprach man nur noch von ihrem Gegner. 

Dem Waffengang Preußens im Verbund mit den süddeutschen Staaten gegen den „Erbfeind“ links des Rheins widmet sich der Militärhistoriker Klaus-Jürgen Bremm in seinem Buch mit dem Titel „70/71“. Wenn die Truppenbewegungen und Schlachten auch den größten Teil der Arbeit einnehmen, so läßt er auch die Vorgeschichte des Konflikts nicht außen vor. 

Gerade für Leser, die mit dem Thema nicht vertraut sind, skizziert der Autor Bismarcks Taktieren im Vorfeld des Krieges, um Preußen vor dem Makel des Aggressors zu bewahren. Wenn auch bisweilen die Bewunderung für den späteren Reichsgründer stark hervortritt, trifft das Urteil doch zu, daß Bismarck „mit Glück, Geschick und Skrupellosigkeit das seltene Kunststück fertiggebracht“ hatte, „einen Präventivkrieg zu beginnen und dabei Frankreich den präventiven Schlag führen zu lassen“. 

Bei Kriegsausbruch im Sommer 1870 war nicht nur die französische Führung siegesgewiß, sondern auch das Volk. Neben vergangenen Siegen stützte sich diese Annahme auch auf das überlegene Chassepot-Gewehr. Doch sollten die kommenden Monate zeigen, daß im modernen Krieg neben Waffen die Logistik entscheidend ist. 

Bremm, der mit einer Arbeit über Preußens Militärstrategie und den Einsatz der Eisenbahn promoviert wurde, schildert, wie wichtig die Fähigkeit zur koordinierten Truppenbewegung auf der Schiene im 19. Jahrhundert geworden war. Er zeichnet anschaulich nach, wie die Mobilisierung der französischen Streitkräfte im Juli zu einem Desaster wurde. Einheiten irrten teils wochenlang durch das Land und suchten ihre Stammtruppenteile, Ausrüstung und Munition strandete irgendwo auf Bahnhöfen, wie die zwei Millionen Schuß für das Chassepot-Gewehr in Metz. In Preußen dagegen waren zunächst nur Angehörige des Bürgertums kriegsbegeistert. Die einfache Bevölkerung blieb anfangs zurückhaltend. Erst mit der Zeit wuchs die Zuversicht, was auch an der reibungslosen eigenen Mobilmachung und der Solidarität der süddeutschen Staaten lag. 

Erste vier Kriegswochen mit 80.000 deutschen Verlusten

So kommt der ehemalige Truppenoffizier der Panzertruppe der Bundeswehr zu dem Urteil: „Das Zeitfenster für eine französische Offensive hatte sich bereits geschlossen, noch bevor der erste Schuß des Krieges gefallen war. In einer Mischung aus Überheblichkeit und Ignoranz war Frankreich in einen Krieg gegen die größte Militärmacht Europas hineingestolpert, mit einer nur scheinbar fertigen Armee und ohne echte Verbündete.“ 

Dementsprechend gestaltete sich auch der Kriegsverlauf. Nach einem Vorstoß auf Saarbrücken, das nach drei Tagen schon wieder geräumt wurde, gerieten Frankreichs Truppen gegen die deutschen Divisionen in die Defensive. 

Doch trotz der dann folgenden siegreichen Grenzschlachten (Weißenburg, Wörth, Spichern), des Triumphes in Sedan Anfang September 1870 und der erfolgreichen Einkesselung der französischen Rheinarmee in Metz, ein Spaziergang war der Weg nach Paris für die deutschen Soldaten nicht. Bereits in den ersten vier Kriegswochen fanden 80.000 Deutsche den Tod oder wurden verwundet. Das lag nicht zuletzt daran, daß ihre Befehlshaber vor Ort oft eigenmächtig angriffen. Das wiederum verleitete Bismarck in einem Brief an seine Frau zu der Klage, die deutschen Offiziere seien so erpicht darauf, das Eiserne Kreuz zu erlangen, daß sie noch ihre Köpfe in französische Kanonen stecken würden. 

Durch solche und ähnliche Kommentare von Zeitzeugen zum Kriegsgeschehen vermittelt das Buch die Vorgänge lebendig. Schlachtenkarten und Bilder runden das Buch ab, das umfassend den Verlauf des letzten der deutschen Reichs-einigungskriege schildert.

Klaus-Jürgen Bremm: 70/71 – Preußens Triumph über Frankreich und die Folgen, WBG Theiß, Darmstadt 2019, gebunden, 336 Seiten, 25 Euro