© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

„Elementar gefährlich für die Partei“
Mitglied oder Nichtmitglied? Nach widersprüchlichen Urteilen ist der Fall Andreas Kalbitz in der AfD weiterhin unklar / Fronten verhärtet
Jörg Kürschner / Christian vollradt

Vielleicht haben die Fotografen und Kameraleute auf den großen Eklat gelauert, als sie Ende vergangener Woche am Kongreßzentrum im thüringischen Suhl warteten. Dort traf sich der Bundesvorstand der AfD zu seiner monatlichen Präsenzsitzung und anschließend zu einer Klausur mit den Landesvorsitzenden der Partei. Nichts Ungewöhnliches eigentlich. Wäre nicht die besondere Situation im Fall Andreas Kalbitz – und die nicht eindeutig zu beantwortende Frage: Ist er nun oder ist er nicht Mitglied der AfD?

Der Brandenburger Landtagsabgeordnete hatte im Eilverfahren das Landgericht Berlin und das parteiinterne Bundesschiedsgericht angerufen, die die Mitte Mai vom Bundesvorstand mit knapper Mehrheit beschlossene Annullierung seiner Mitgliedschaft für unwirksam erklären sollten (JF 27/20). Das Landgericht entschied im einstweiligen Rechtsschutz, die AfD habe Kalbitz „alle sich aus der Mitgliedschaft (…) ergebenden Rechte uneingeschränkt zu belassen“. Aber nur vorläufig, „bis zu einem rechtskräftigen Abschluß des Hauptsacheverfahrens vor dem Bundesschiedsgericht“. Das wurde als Klatsche für die Mehrheit des Bundesvorstands gewertet – und entsprechend erfreut im Umfeld des inzwischen formal aufgelösten „Flügels“ aufgenommen. 

Wer Handgreiflichkeiten erwartete, wurde enttäuscht

Inzwischen hat auch der aus allen drei Kammern bestehende Senat des Bundesschiedsgerichts der AfD entschieden –  noch nicht im Hauptsacheverfahren, sondern wie das Landgericht im einstweiligen Rechtsschutz. Anders als vor den ordentlichen Richtern scheiterte Kalbitz vor den neun Parteirichtern mit seinem Antrag, die Annullierung seiner Mitgliedschaft für unwirksam zu erklären. Deren Begründung unter anderem: Im Hauptsacheverfahren habe er keine Erfolgsaussichten.Wörtlich heißt es in der Entscheidung: „Es sprechen gewichtige Umstände dafür, daß die Annullierung der Mitgliedschaft des Anspruchstellers wirksam erfolgt sein dürfte.“ Eine Klatsche für Kalbitz.

Im deutschen Rechtssystem ist stets nur eine Gerichtsbarkeit zuständig. Zuständig in Parteiordnungsverfahren ist zuerst das Schiedsgericht. Dies würde bedeuten, daß Kalbitz derzeit kein Parteimitglied ist. Und das Urteil des Landgerichts? Danach ist der Brandenburger „vollwertiges Parteimitglied“, das an den Sitzungen des Bundesvorstands teilnehmen könne. „Mein Mandant hat somit bis dahin urteilsgemäß alle Mitgliederrechte uneingeschränkt inne und ist vollwertiges AfD-Mitglied“, betonte Kalbitz’ Rechtsanwalt Andreas Schoemaker gegenüber der JUNGEN FREIHEIT. Gleichwohl nehme man die Rechtsauffassung des Bundesschiedsgerichts zur Kenntnis und beziehe diese in das weitere Vorgehen ein. 

Während der nunmehr auch wieder als offizieller Vorsitzender der Landtagsfraktion in Potsdam amtierende Kalbitz überzeugt ist, derzeit AfD-Mitlgied zu sein, geht die Mehrheit des Bundesvorstands auf Basis der – vorläufigen –  Schiedsgerichtsentscheidung davon aus, daß er dies nicht ist. Eine spannende Frage, was die Teilnahme an den entsprechenden Gremiensitzungen betrifft. 

In Suhl verfuhr man am Wochenende pragmatisch. Zu einem womöglich in Handgreiflichkeiten ausartenden „Showdown“ vor dem Sitzungssaal kam es nicht – wer auf entsprechende Bilder gehofft hatte, wurde enttäuscht. Kalbitz konnte ohne viel Aufhebens an der Sitzung des Bundesvorstands teilnehmen und fungierte bei der Klausur als Landeschef der Brandenburger AfD.  Gesichtswahrend war dies auch für seine Kontrahenten möglich, da die schriftliche Fassung des Schiedsgerichtsurteils noch nicht vorlag, als der Bundesvorstand seine Sitzung begann. Die sei in entspannter Atmosphäre verlaufen, hieß es aus Teilnehmerkreisen. 

Im Ergebnis nimmt also das von den Parteirichtern vorläufig ausgeschlossene und damit parteilose Mitglied Andreas Kalbitz an den Sitzungen des Bundesvorstands, des höchsten Beschlußgremiums der AfD, teil. Am 25. Juli, so heißt es, will das Schiedsgericht das Hauptsacheverfahren durch Urteil abschließen. Danach ist der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten, also zum Landgericht, eröffnet. „Dieser Vorgang ist noch nicht abgeschlossen“, heißt es in Schoemakers Stellungnahme gegenüber der JF prophetisch.

Auch wenn eine Mehrheit im Bundesvorstand dem Schieds- einen Vorrang vor dem Landgericht einräumt, können die meisten offenbar mit der Teilnahme Kalbitz’ leben. Es handele sich schließlich nur um eine Übergangszeit von einigen Wochen, betroffen seien möglicherweise lediglich zwei Telefonkonferenzen und eine Präsenzsitzung. Da wolle man wohl „kein Faß aufmachen“, faßte ein Beobachter die Stimmungslage zusammen. 

Dabei hatte das Bundesschiedsgericht in seinem Urteil aus der vergangenen Woche entschieden: „Würde der Antragsteller – also Andreas Kalbitz – vorläufig in seine Parteirechte wiedereingesetzt, würde er an weiteren Beschlüssen des Bundesvorstandes und Landesvorstandes mitwirken. Stellte sich dann später im Hauptsacheverfahren heraus, daß die Annullierung der Mitgliedschaft wirksam war, entfiele damit rückwirkend auf den Zeitpunkt des Beschlusses die Parteimitgliedschaft, so daß ein Parteifremder an den Beschlüssen mitgewirkt hätte.“ Wobei die Pragmatiker auch in diesem Fall zur Gelassenheit raten. Derzeit stehe ohnehin nichts Umstrittenes auf dem Plan, zur Not könne man einzelne Abstimmungen auch noch nachholen – dann ohne Kalbitz. Die Parteirichter sahen unterdessen das Interesse der Partei, keinen in ihren Reihen dulden zu müssen, der sich möglicherweise mit falschen Angaben die Mitgliedschaft erschlichen haben könnte, als höherrangig gegenüber dem Interesse Kalbitz’ auf Verbleib in der Partei an. Denn dieses sei „nicht gefährdet, wenn bis zur Hauptsacheentscheidung abgewartet wird“. Für die Position des Bundesvorstands sprächen zudem „die Extremismusvorwürfe, die für den Gesamtbestand der Partei von elementarer Gefährlichkeit sind“. In diesem Zusammenhang erwähnen sie auch, daß Brandenburgs Landeschef bereits vom Verfassungsschutz beobachtet werde.  

Der Ehrenvorsitzende bekommt sein Fett weg

Immerhin konnte Parteichef Meuthen bei der Vorstandssitzung eine Klippe umschiffen, an der ihn mancher seiner innerparteilichen Widersacher gern hätte scheitern sehen. Mit acht Ja- gegen drei Neinstimmen bei einer Enthaltung votierte eine Mehrheit der AfD-Führung dafür, im Falle seiner rechtswidrigen Annahme einer Spende der Goal-AG (JF 4/20) nicht in Revision zu gehen – und die Strafe in Höhe von 269.400 Euro an die Bundestagsverwaltung zu zahlen. Dies falle zwar nicht leicht, teilte Meuthen später mit, doch „die Akzeptanz der Strafzahlung folgt hier rein nüchternen Erwägungen“. Denn laut anwaltlicher Einschätzung „sei es eher fraglich, daß wir mit unserer Rechtsauffassung in weiteren Instanzen obsiegen würden“. Und dies könne sich dann, im Superwahljahr 2021 „aufgebläht zur Parteispendenaffäre“, schädlich auswirken. 

Inwieweit das auch für die „Causa Kalbitz“ gilt? Sie spielte – wenig überraschend – bei der anschließenden Klausurtagung des AfD-Bundesvorstands mit den Landesvorsitzenden eine große Rolle. Einen ganzen Vormittag, so heißt es übereinstimmend, habe man damit verbracht. Ohne Schreierei, aber mit deutlichen Worte – gerade auch in Richtung der beiden prominenten Anführer des ehemaligen „Flügels“, Kalbitz sowie Björn Höcke. Alle hätten darin übereingestimmt, verlautete es aus Teilnehmerkreisen, daß eine ehrliche Diskussion dringend nötig sei – aufgrund der Brisanz für die Zukunft der AfD. 

Zwei Dinge scheinen in der Aussprache bemerkenswert gewesen zu sein: Der AfD-Vorsitzende Meuthen, dem manche Parteifreunde in der Vergangenheit mangelnde Führungsstärke attestiert hatten, sei „ausgesprochen kämpferisch“ und engagiert aufgetreten, während insbesondere seine Kritiker im Vorstand nahezu still geblieben seien. 

Zum anderen habe es – eher ungewöhnlich für AfD-Verhältnisse – viel Gegenwind für den ebenfalls anwesenden Alexander Gauland gegeben, der „sein Fett weg“ bekommen habe. Im Ton sehr moderat, in der Sache jedoch deutlich, hieß es. Einigen war sauer aufgestoßen, daß der Parteisenior sich offensiv gegen Parteichef Meuthen positioniert und von „zersetzenden Tendenzen“ gesprochen hatte. Ein Ehrenvorsitzender, so die Kritiker, hätte sich mehr zurückhalten, integrativer wirken müssen.

Am Ende, so hieß es übereinstimmend von Teilnehmern, habe die deutliche Mehrheit der Landesvorsitzenden die Position der Mehrheit im Bundesvorstand unterstützt. Der Vorstoß eines kleinen Teils, den Vorstand zur Rücknahme des Beschlusses in Sachen Kalbitz – um der „Befriedung“ willen – zu bewegen, blieb erfolglos. Dies würde eben nicht die Partei befrieden, sondern in erster Linie ein fatales Signal nach außen senden. Kalbitz wiederum machte deutlich, er werde durch alle Instanzen um seine Mitgliedschaft kämpfen. 

Einen Kompromiß gibt es in der Frage nicht. Ein bißchen Mitglied ist schließlich nicht möglich. Jetzt haben also die Juristen das Sagen. Aber auch – nicht zu vergessen – die Wähler.