© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Grüße aus Wien
Ich zeig’ dich an!
Michael Link

Seit dem 5. März wußten die Tiroler Behörden, daß im Après-Ski-Ort Ischgl das Coronavirus unterwegs ist, doch erst am 13. März wurde die Touristensaison beendet – aber da hatten Urlaubsrückkehrer ihr Mitbringsel schon weiterverbreitet. Und die Pandemie nahm Fahrt auf: „Bald wird jeder von uns jemanden kennen, der an Corona gestorben ist“, prognostizierte am 30. März Kanzler Sebastian Kurz im ORF. Doch „dieser Sturm“ traf Österreich nicht so heftig wie Italien. Wegen des Shutdowns, sagen ÖVP und Grüne – und wegen Tausender Anzeigen als zusätzliches „Erziehungsmittel“? Nina Proll widmete jenen Obrigkeitsgläubigen den Wut-Videoclip „I zag di au“, in dem die blonde Sängerin auf die nicht eingetretene Prophezeiung anspielte: „Bald wird jeder wen kennen, der wen kennt, der wen au’zagt hat …“ Bewaffnet mit Bierdose und Tschick (Zigarettenstummel), leidet sie am Quarantäne-Koller. Im Gemeindebau-Hausmeisteroutfit mimt Proll die Anzeigeerstatter. Singend beschwört sie Regeln wie Abstand halten und Hände waschen.

Wird wirklich „bald jeder wen kennen, der wen kennt, der wen angezeigt hat“?

Nina Proll erinnert auch an eine Veranstaltung im Kleinwalsertal, wo eine dichtgedrängte Fangemeinde den Kanzler bejubelte – der das Bad in der Menge sichtlich genoß. So geschehen Mitte Mai, als der Bürger den Zwei-Meter-Mindestabstand einhalten mußte. Den Fans von Proll, die in diversen „Tatorten“ und in der ORF-Serie „Vorstadtweiber“ vor der Kamera stand, gefällt das bissige Blueslied, meine Begeisterung hält sich allerdings in Grenzen. 

Zwar sorge ich mich nicht, daß gleich ein ganzer Berufsstand in Mißkredit gezogen wird. Oder Alkoholiker. Oder fromme Menschen. Allerdings ist mir noch kein Fall einer Denunziation wegen Anderen-Menschen-zu-nahe-zu-Seins oder Sich-nicht-die-Hände-Waschens zu Ohren gekommen. Obwohl ich für die eine oder andere Verwarnung zur Zeit des Corona-Peaks Verständnis aufgebracht hätte. Denn zwischen Corona-Partys und eine Elle breit kurz nebeneinander an der Kreuzung zu stehen gibt es einen Unterschied. Launige Zahlenspielereien machen mir halt manchmal mehr Spaß als das Wutvideo-Ansehen von wohlsituierten Künstlern, die ihre Karriere am Laufen halten wollen. Viel eher würde ich mich der Prophezeiung anschließen, wonach bald jemand jemanden kennen wird, der jemanden kennt, der Prolls Video schon angeklickt haben wird.