© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Der nächste Skandal wartet schon
Zahlungsdienstleister: Bilanzlöcher beim einstigen Dax-Star Wirecard weit größer als erwartet / Schauten Prüfer und Aufseher einfach weg?
Paul Rosen

Als vor 13 Jahren die Finanzkrise begann und private wie öffentliche Banken mit Steuergeld-Milliarden gerettet werden mußten, machte sich die Politik ans Werk und beschloß etliche Anlegerschutz- und Finanzmarktgesetze. Man habe ein „Regelpaket auf den Weg gebracht, das seinesgleichen sucht“, stellte der damalige finanzpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Ralph Brinkhaus, fest. Die Zeit, die 2008 mit den Rettungsmaßnahmen erkauft worden sei, sei genutzt worden, „um die Finanzmärkte zu verändern“, so der inzwischen zum Fraktionsvorsitzenden aufgestiegene CDU-Politiker.

Noch mehr Eigenlob war am 5. Februar 2015 in einer Bundestagsdebatte von der SPD zu hören, deren Finanzpolitiker Manfred Zöllmer erklärte: „Es bleibt dabei: Kein Finanzmarktakteur, kein Finanzprodukt und kein Finanzmarkt darf unreguliert bleiben.“ Ein Ergebnis dieser Regulierung ist mit dem Zusammenbruch der Wirecard AG (JF 27/20) der größte Finanzmarkt- und Börsenskandal der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Der Deutsche Aktienindex (Dax) wurde am 1. Juli 1988 eingeführt, er umfaßt die 30 jeweils aktuell größten und liquidesten börsennotierten Aktiengesellschaften in Deutschland – doch noch nie hat ein Dax-Unternehmen, wie jetzt Wirecard, Insolvenz anmelden müssen. Denn um in der erlauchten 30er-Kreis aufgenommen zu werden, muß die jeweilige AG oder auch Europäische Aktiengesellschaft (SE) die hohen Transparenzanforderungen des „Primes Standard“ erfüllen.

Bei der Digitalisierung ganz vorne mit dabei?

Der Zahlungsdienstleister galt als digitales Vorzeigeunternehmen in jeglicher Hinsicht – selbst der Wirecard-Aufsichtsrat war mit zwei Deutschen, einem Österreicher sowie der Südafrikanerin Vuyiswa M’Cwabeni und der aus Rußland stammenden Linguistin Anastassia Lauterbach fast divers und geschlechtergerecht besetzt. Der schlichte Firmensitz in der Gemeinde Aschheim bei München, wo ein „breitgefächerters Spektrum“ von Firmen der „High-Tech-Industrie über Finanzdienstleister und Mode bis hin zu Recycling“ seinen Sitz hat (Eigenwerbung) wurde in den Medien gern das „deutsche Silicon Valley“ genannt.

„Bei der Digitalisierung der Industrie ist Deutschland ganz vorne mit dabei – und das soll auch so bleiben“, schwärmte Peter Altmaier noch vor einem Jahr. Jetzt bleibt in der ersten Wirtschaftsliga nach der Wirecard-Pleite mit der badischen SAP SE nur noch ein Unternehmen aus der Digitalbranche übrig. Und der CDU-Wirtschaftsminister jammert: „Wir hätten eine solche Situation überall erwartet – nur nicht in Deutschland.“

Die Situation ist dramatisch: Mindestens 1,9 Milliarden Euro Firmenvermögen bei Wirecard waren offenbar frei erfunden. Mitarbeiter von Ernst & Young (EY), einer der vier umsatzstärksten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften der Welt, testierten von 2010 bis 2018 trotzdem die Jahresabschlüsse. Sie glaubten die Mär von den Milliarden-Konten auf den Philippinen.

Die Wirecard-Aktionäre, darunter sehr viele Kleinanleger, könnten etwa 20 Milliarden Euro verloren haben. In der Spitze hatte der Wirecard-Kurs bei 200 Euro gelegen, zuletzt pendelte die Aktie zwischen zwei und sechs Euro. Darüber hinaus hat Wirecard Anleihen mit einem Volumen von 500 Millionen Euro auf den Markt geworfen. Banken haben Wirecard fast zwei Milliarden Euro geliehen.

Der schnelle Insolvenzantrag läßt für Finanzmarktprofis nur den Schluß zu, daß die Wirecard-Bilanzlöcher weit größer sind als bisher bekannt. „Da ist nichts mehr zu holen“, wird ein Vertreter der Gläubiger-Banken zitiert. Im November 2018 titelte die FAZ hingegen noch: „Wirecard verdient immer mehr“, und zitierte Vorstandschef Markus Braun, der für 2019 „eine starke Beschleunigung des Geschäfts“ versprach. Allein in den ersten neun Monaten des Jahres 2018 sei das von Wirecard abgewickelte Transaktionsvolumen um 44 Prozent auf 90 Milliarden Euro gestiegen – bei 1,4 Milliarden Euro Umsatz und 395 Millionen Euro Betriebsgewinn.

„Eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland“

Doch das Wirecard-Geschäftsmodell hatte kein Alleinstellungsmerkmal: Konkurrenten wie die niederländische Firma Adyen, sollen in Wahrheit mit der Hälfte des Personals den doppelten Gewinn gemacht haben soll. Die zusammengebrochene deutsche Digital-Schmiede verliert jetzt einen Kunden nach dem andern. Die britische Finanzaufsicht untersagte Wirecard den Geschäftsbetrieb im Königreich. Was neben Strafverfahren gegen Ex-Firmenchef Braun, der gegen fünf Millionen Euro Kaution wieder auf freien Fuß kam, oder der spannenden weltweiten Fahndung nach dem für das organisatorische Geschäft zuständigen Vorstand Jan Marsalek bleibt, ist die politisch-juristische Aufarbeitung. „Der Fall Wirecard ist eine Katastrophe für den Finanzplatz Deutschland und eine Bankrotterklärung der beteiligten Wirtschaftsprüfer und Aufsichtsbehörden“, sagt FDP-Finanzexperte Florian Toncar. Sein Fraktionskollege Frank Schäffler hofft auf einen Untersuchungsausschuß des Bundestages.

„Der durchschnittliche Steuerzahler wird von den Finanzbehörden streng beobachtet, und ein Dax-Unternehmen wird unter der BaFin-Aufsicht dagegen nicht korrekt überwacht. Das kann und darf nicht sein“, sagt Kay Gottschalk, AfD-Mitglied des Finanzausschusses. Und die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) scheint für Regierungspolitiker ein Wundermittel: Kaum taucht ein Problem auf dem Finanzmarkt auf (wie die letzte Milliardenpleite von P&R-Container), soll die BaFin es lösen: die Wertpapierprospekte besser kontrollieren, das Geschäftsmodell und das Management genauer unter die Lupe nehmen.

Bei Wirecard tat die BaFin das Gegenteil: Nachdem die Financial Times mehrfach über Bilanztricks von Wirecard berichtet hatte, zeigte die BaFin die britischen Finanzreporter bei der Staatsanwaltschaft München „wegen des Verdachts der Marktmanipulation in Form einer Short Attacke in Aktien der Wirecard AG“ an. Außerdem wurde ein Leerverkaufsverbot von Wirecard-Aktien verhängt. Erst als die Berichte immer drastischer wurden, alarmierte die BaFin die Deutsche Prüfstelle für Rechnungslegung, wo angeblich ein Mitarbeiter die Causa Wirecard übernahm.

Das Eingeständnis von BaFin-Chef Felix Hufeld, man sei nicht „effektiv genug gewesen, um zu verhindern, daß so was passiert“, hat diverse Klageankündigungen gegen die BaFin ausgelöst. Auch EY dürfte mit Klagen von geschädigten Aktionären und Anleihegläubigern überzogen werden. Sollten diese erfolgreich sein, droht EY das Schicksal der Prüfgesellschaft Arthur Andersen, die nach fragwürdigen Testaten für den US- Pleitekonzern Enron 2002 vom Markt verschwand. Für die Fehler von BaFin & Co. haftet wohl der Steuerzahler.

 www.wirecard.com/de

 www.bafin.de