© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Vom Helden zum Buhmann
Film I: „Der Fall Richard Jewell“ von Clint Eastwood ist ein Lehrstück über überambitionierte Tugendwächter
Dietmar Mehrens

Es ist schon ein dickes Ding, was dem leicht übergewichtigen Sicherheitsbediensteten Richard Jewell (Paul Walter Hauser) widerfährt: Erst ist er der Held und wenig später der Buhmann der Nation. Zugegeben, Jewell gehört nicht zu denjenigen Menschen, die jeder um jeden Preis auf seiner Party dabeihaben möchte; er gehört eher in die Kategorie verhaltensauffällige Nervensäge.

Die Geschichte hinter der Geschichte

Auch als er bei den Olympischen Spielen 1996 in Atlanta während eines Konzerts im Centennial Park eine verdächtige Tasche unter einer Bank entdeckt, sieht zunächst alles danach aus, als würde ein Wichtigtuer mal wieder die Flöhe husten hören und viel Wind um nichts machen. Doch der prinzi-pientreue Wachmann läßt nicht locker, und als die Bombe explodiert, ist klar: Nur dank seiner Beharrlichkeit konnte Schlimmeres verhindert werden. Jewell ist der Held des Tages.

Doch dann wittert eine überambitionierte Journalistin (Olivia Wilde) die heiße Geschichte hinter der Geschichte, als ihr einer der zu dem Anschlag ermittelnden Beamten (Jon Hamm) ins Ohr flüstert, daß der frisch gekürte Held selbst in das Visier der Fahnder geraten ist. Einiges in seiner Vita paßt nämlich in das Profil sogenannter Aufmerksamkeitskrimineller. Das sind Menschen, die sich wie der Delmenhorster Krankenhausmörder Niels Högel als Lebensretter in Situationen inszenieren, die sie selbst herbeigeführt haben. Als der Sicherheitsfachmann Jewell angesichts einer Pressemeute, die ihn und seine Mutter permanent bedrängt, nicht mehr ein noch aus weiß, wendet er sich an einen alten Kollegen (Sam Rockwell), der sich als Anwalt selbständig gemacht hat. Die Gegenoffensive kann beginnen.

Clint Eastwood gehört zu den wenigen Hollywood-Heroen (JF 22/20), deren Leistungen als Regisseur ihren früheren Ruhm als Schauspieler glatt in den Schatten stellen. Das liegt an seinem phänomenalen Gespür für filmreife Stoffe. In jüngerer Zeit hat er sich dabei auffallend oft für wahre Begebenheiten und reale Vorbilder entschieden. Eastwood liebt Geschichten, in denen einfache Bürger zu Helden werden, indem sie dank eines funktionierenden moralischen Kompasses das Richtige tun. Er erzählte davon in „Der fremde Sohn“ (2008), „American Sniper“ (2014), „Sully“ (2016) oder zuletzt in „15:17 to Paris“ (2018).

Thematisch knüpft „Richard Jewell“ an „Sully“ an: Wie in dem Film über den Piloten Chesley Sullenberger, der eine defekte Passagiermaschine auf dem Hudson River landete, wird der Zuschauer, ob er will oder nicht, zum Leidensgefährten eines Alltagshelden, den kleinkarierte Bürokraten und engstirnige Strafverfolger auf den Boden der Tatsachen zurückzerren. Er wird Zeuge eines Justizdramas, das sich außerhalb des Gerichtssaals in der Öffentlichkeit abspielt. Ohne falsche Rücksicht enthüllt der Film die unrühmliche Rolle, die – wie hierzulande bei der Causa Maaßen – eine skandalsüchtige Presse spielt, wenn sie vorverurteilt und so selbst ruhmreiche Helden zu Fall bringt.

Neben Paul Walter Hauser, dem man den gutmütigen, aber etwas unbedarften Ex-Polizisten in jeder Szene abnimmt, brilliert die bereits für ihre Rolle in der Stephen-King-Verfilmung „Misery“ (1990) mit dem Oscar ausgezeichnete Kathy Bates als Mutter des Hexenjagd-Opfers. Als Mrs. Jewell wurde sie erneut für die begehrte Trophäe nominiert.