© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

„Zufälle sind nur Mangel an Information“
Film II: „Mein Ende. Dein Anfang“ widmet sich existentiellen Fragen mit raffinierter Doppelbödigkeit
Dietmar Mehrens

Hatten Sie schon mal ein Déjà-vu?“ So lautet der erste Satz dieses so harmlos beginnenden Films. Kurz darauf gibt es für den Zuschauer tatsächlich ein Déjà-vu: Er wird Zeuge eines Banküberfalls, wie er im Kino schon etliche Male zu sehen war, eines Überfalls mit katastrophalem Ausgang. Nora (Saskia Rosendahl) versucht heimlich, mit ihrem Mobiltelefon die Polizei zu verständigen. Ein Bankräuber bemerkt das. Es gibt eine Rangelei. Ein Schuß fällt. Noras Kleidung färbt sich rot. Doch es ist nicht ihr Blut, das an ihr klebt, sondern das ihres Freundes Aron (Julius Feldmeier), der sich schützend vor sie gestellt hat. 

Nora und Aron. Sein Ende, sein Name von hinten gelesen, ist ihr Anfang. Daß sich unter der Oberfläche dessen, was sich dem Betrachter sofort erschließt, mehr verbirgt, daß das Spiel mit den Buchstaben nur ein Tor zum Eintritt in tiefere Zonen des Nachdenkens über Schicksal, Zufall und Fügung ist, das wird bei „Mein Ende. Dein Anfang“ schnell klar.

Anfang und Ende: Aron steht am Anfang einer beachtlichen akademischen Karriere, Nora als Verkäuferin in einem Supermarkt schon fast am Ende ihrer beruflichen Möglichkeiten. Dabei war sie früher eine „Eisprinzessin“ mit Chance auf Olympia. Eine Laufbahn mit abruptem Ende. Dafür nun ein gemeinsamer Anfang mit Aron: Die beiden frisch Verliebten und frisch ins Leben Hinausstürmenden sind ein wunderbares, hoffnungsvolles Paar – und das perfekte Identifikationspersonal für alle jungen Leute von heute: bemerkenswert ehrlich, entwaffnend unprätentiös, frei von Dünkel und Vorurteilen. Und schon wieder ein Ende: der tödliche Schuß in der Bank. Es folgt ein Schnitt: Nora und Aron beim Eislaufen. In Rückblenden wird nach und nach enthüllt, wie anfing, was bei dem Überfall so jäh endet. Die Montage – also das Aneinanderschneiden von Filmsequenzen – ist das wichtigste Stilmittel des beeindruckenden Langfilmdebüts von Mariko Minoguchi.

Zu bemerkenswerter Perfektion hat der Mexikaner Alejandro González Iñárritu mit seinen drei Filmen „Amores Perros“, „21 Gramm“ und „Babel“ eine Montagetechnik geführt, bei der der Bezug der einzelnen Szenen zueinander sich nicht sofort erschließt. Insbesondere „21 Gramm“ weist zahlreiche Parallelen zum Film der 1988 in München geborenen Tochter eines Japaners auf.

Auch Minoguchi erzählt mehr als eine Geschichte: Parallel zu Aron und Nora lernt der Zuschauer Natan (Edin Hasanovic) kennen: Der ist Deutscher mit deutlich erkennbarem Migrationshintergrund und noch deutlicher erkennbarer prekärer Finanzlage. Als bei seiner kleinen Tochter Leukämie diagnostiziert wird und er aufgrund einer Dummheit auch noch seine Arbeit verliert, weiß er vor Verzweiflung nicht mehr ein noch aus. Da trifft er Nora. Zufall? 

Mitunter mangelt es an der Schlüssigkeit

An Zufälle jedenfalls hat Aron, der zu komplexen philosophischen Reflexionen neigende Nachwuchsakademiker, nicht geglaubt. „Zufälle sind nur Mangel an Information“, läßt ihn das von der Regisseurin selbst verfaßte Drehbuch in einer Rückblende sagen. Der Satz ist zugleich so etwas wie das Rezept für ihren Film, der erkennbar mehr an Führung und Fügung glaubt als an blinden, richtungslosen Zufall. Das vielschichtige Filmdrama stellt auch – durch den Sohn einer Kollegin von Nora, Kindermund tut Wahrheit kund – die Frage nach dem metaphysischen Danach: Kommt Aron in den Himmel oder wird er vergraben und zu „Regenwurmkacke“? Und welche Sühne ist angemessen für eine Schuld, wie sie Arons Mörder auf sich geladen hat?

Es sind solche existentiellen Fragen und die raffinierte Doppelbödigkeit, mit der Minoguchi sich ihnen nähert, die ihr Erstlingswerk zu einem Erlebnis machen und die offensichtlichen Schwächen – Unübersichtlichkeit des Erzählten durch die mitunter verwirrenden Montagen und mangelnde Stringenz – aufwiegen. Letztere ist dem Verharren der Regisseurin bei Szenen geschuldet, die ihr offenkundig wichtiger sind als dem Zuschauer, die sie, womöglich verführt durch das intensive Spiel von Saskia Rosendahl, auswalzt, während der Zuschauer gern weitereilen würde zum finalen Knall. So fehlt dem Film ein Rhythmus, der sein Publikum noch stärker mitreißt, als es die einzelnen Töne vermögen, die Minoguchi in ihrem Leinwanddebüt kunstvoll zum Klingen bringt.

Der Film liegt seit Juni als DVD, Blu-ray und Digital bei Streaminganbietern vor.

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