© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Den russischen Weg gehen
Vor neunzig Jahren versuchte Otto Strasser einen Linkskurs der NSDAP einzuleiten und scheiterte
Karlheinz Weißmann

Nationaler Sozialismus“ war nach dem Ersten Weltkrieg eine Parole, die in Deutschland auf breite Zustimmung rechnen konnte. Es gab eine ganze Reihe von Bünden, Bewegungen und Parteien, die sie sich zu eigen machten. Nur nach und nach gelang es Hitler, einen Monopolanspruch für seine Vorstellung von „Nationalsozialismus“ durchzusetzen.

Der Widerstand dagegen hielt sich zäh, auch in den Reihen der NSDAP. Den Kern der innerparteilichen Opposition bildeten die Brüder Gregor und Otto Strasser. Während Gregor Strasser zu den „Alten Kämpfern“ gehörte, schon eine Rolle beim Putschversuch von 1923 gespielt und dann die Partei in der Verbotsphase zusammengehalten hatte, folgte Otto Strasser dem Vorbild des Älteren nur mit einem gewissen Zögern. Während des Krieges pflegte er den Ruf des „roten Leutnants“, schloß sich nach dem Zusammenbruch der SPD an, war aber gleichzeitig fasziniert von Ideen des Konservativen Revolution. Aus deren Fundus übernahm er die „Ostorientierung“ – die Forderung nach einem Bündnis der beiden have-nots Deutschland und Sowjetunion – und den Gedanken, daß das neue „Stadium“ der Geschichte die Beseitigung des Kapitalismus verlange.

Otto Strasser hat solche Ideen auch dann noch vorgetragen, als Hitler die „Münchener Linie“ in der Partei durchsetzte. Deren Ziel war es, das „System“ von Weimar „totzuwählen“. Solange Gregor Strasser als Reichsorganisationsleiter – und das hieß faktisch als zweiter Mann der Partei – seinen Bruder deckte, gab es hinreichend Spielraum für Otto Strassers Radikalismus. Die Lage änderte sich allerdings mit dem Wahlerfolg der NSDAP bei der Landtagswahl in Sachsen am 22. Juni 1930, die ihr fast eine Verdreifachung der Stimmenzahl – von fünf auf 14,4 Prozent – einbrachte. Hitler deutete das triumphierend als Erfolg seines Legalitätskurses und kündigte eine „rücksichtslose Säuberung der Partei“ von allen Elementen an, die etwa noch an der Idee einer „nationalen Revolution“ mit Barrikadenkampf und Guillotine festhielten. Gregor Strasser verstand die Warnung und unterwarf sich, während Otto Strasser am 14. Juli 1930 ein Manifest mit dem Titel „Die Sozialisten verlassen die NSDAP“ veröffentlichte und aus der Partei austrat.

Jahrelange Flucht vor den früheren Parteigenossen

Obwohl der Vorgang in der Öffentlichkeit erhebliches Aufsehen erregte und die weitere Entwicklung mit gespannter Aufmerksamkeit beobachtet wurde, erwies sich die Annahme, es werde zu einer „Spaltung“ der Partei kommen, rasch als irrig. Die von Strasser gebildete Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialisten (KGRNS) konnte nur wenige tausend Mitglieder sammeln, lediglich zwei Gauleiter – von Danzig und Brandenburg – schlossen sich ihm an. An dieser Lage änderte auch der sogenannte Stennes-Putsch der Berliner SA vom 1. April 1931 und dann der Zusammenschluß der KGRNS mit den Resten des aufrührerischen Landvolks und den Bünden „Wehrwolf“ und „Oberland“ zur Schwarzen Front (SF) nichts mehr. Obwohl es in der Parteimiliz und in der proletarisch geprägten Hitler-Jugend Sympathie für einen „linken“ Nationalsozialismus gab, schmolz Strassers Anhängerschaft im Frühjahr 1932 auf etwa achthundert Aktivisten und eintausendfünfhundert weitere Mitglieder zusammen.

Die Hauptursache für dieses Scheitern waren weder persönliche Schwächen Strassers – sein überzogenes Selbstbewußtsein wie seine Disziplinlosigkeit – noch die Betonung des sozialistischen Elements im Programm der SF, das angesichts der dramatischen Wirtschaftskrise und der Massenarbeitslosigkeit durchaus auf Interessen stoßen konnte. Vielmehr dürfte es der irrlichternde Radikalismus gewesen sein, der eine stärkere Resonanz verhinderte. Ein Beobachter sprach von einem „Amalgam aus Nibelungensage und Revolutionsbegeisterung, aus fast-marxistischen Erkenntnissen und romantischer Phraseologie“ (Josef Hindels). Wer den russischen Weg wollte, der ging direkt zur KPD, wer sich eher den Schwarzweißroten zurechnete, den überzeugte wahrscheinlich Hitlers Vorgehen nach der „Erdrutschwahl“ vom 14. September 1930, die Kombination aus verbaler Mäßigung und einem eher unscharf konturierten „nationalen Sozialismus“.

Jedenfalls spielte die Schwarze Front in der Endphase der Weimarer Republik keine Rolle für das politische Geschehen. Was nicht bedeutete, daß Hitler vergaß, in welchem Ton und mit welchen Drohungen ihm Strasser entgegengetreten war. Nach seiner Machtübernahme ließ er die SF am 4. Februar 1933 – noch vor der KPD – verbieten. Strasser selbst floh nach Wien, dann in die Schweiz und weiter nach Prag. Von dort entwickelte er eine rege Widerstandstätigkeit, gab weiter die Zeitung Die deutsche Revolution – Organ der Schwarzen Front heraus und betrieb sogar einen „Schwarzen Sender“, der Berichte in deutscher Sprache über die Grenze ins Reich ausstrahlte. Die Wirkung war allerdings sehr begrenzt. Trotzdem wurde der Sender durch ein eigens aufgestelltes SS-Kommando zerstört, die Mitarbeiter liquidiert. Strassers Beharren darauf, daß er den „wahren Nationalsozialismus“ repräsentiere, isolierte ihn außerdem gegenüber allen anderen Exilgruppen. Zwar lösten sich alte Abgrenzungen auf – Strasser verfaßte sogar mit Kurt Hiller ein gemeinsames Manifest –, aber letztlich fand Strasser in der Emigration keine Unterstützung.

Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß sich seine ständigen Warnungen vor Hitlers Expansionsplänen Ende der 1930er Jahre zu bewahrheiten anfingen. Er mußte die Tschechoslowakei fluchtartig verlassen. Über Frankreich ging er nach Portugal und erhielt dort mit Mühe ein Visum für die Ausreise. Während der ersten Phase des Krieges blieb er auf den Bermudas, damals eine britische Kolonie, um zuletzt nach Kanada auszuweichen. Während der ganzen Zeit hatte Strasser mit dem Mißtrauen der Behörden der Aufnahmeländer zu kämpfen, und nach dem Zusammenbruch von 1945 suchten zuerst die Besatzungsbehörden, dann die westdeutschen Stellen seine Rückkehr zu verhindern. Erst 1955 erhielt Strasser ein Einreisevisum für die Bundesrepublik.

Strassers Neugründung nach 1955 blieb erfolglos

Die Befürchtung, die man gehegt hatte, daß Strasser mit dem Nimbus des Hitler-Gegners eine neue national-sozialistische Bewegung gründen konnte, erwies sich als grundlos. Zwar gab es durchaus Getreue – einige hatten für ihren „Strasserismus“ mit KZ-Haft gebüßt –, die jetzt mit ihm eine Deutsch-Soziale Union (DSU) gründeten. Aber Strassers Vorschlag von ständischem Aufbau im Inneren und Neutralismus nach außen war sowenig wie seine früheren Programme geeignet, eine größere Zahl von Anhängern unter einer Fahne zu sammeln, die immer noch das alte Emblem der SF zeigte: Hammer und Schwert für den wehrhaften Arbeiterstaat, der eigentlich immer sein Ziel gewesen war.

1962 wurde die DSU wegen anhaltender Erfolglosigkeit aufgelöst, Strasser zog sich aus der Politik zurück und starb 1974 fast vergessen.