© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Die Impotenz der Blauhelme
Vor 25 Jahren verübten serbische Truppen ein Massaker an Bosniern in Srebrenica
Michael Dienstbier

Ein Bild reicht, um das Versagen Europas im Bosnienkrieg zu verdeutlichen. Auf einer ikonisch gewordenen Fotografie stehen sich der Chef der 400 niederländischen Blauhelm-Soldaten, Thomas Karremans, und General Ratko Mladic bei einem gemeinsamen Trinkspruch gegenüber. Aufgenommen am 12. Juli 1995, einen Tag nach der Eroberung der UN-Schutzzone Srebrenica durch die bosnisch-serbischen Truppen Mladics, sehen wir in Karremans einen Besiegten – wehrlos, erniedrigt, um sein Leben fürchtend –, der als Objekt einer Machtdemonstration herhalten muß. 

In etwa 20.000 Bosniaken, bosnische Moslems, waren im Verlauf des Bürgerkriegs in die 1993 von der UN eingerichtete Schutzzone geflohen. In den folgenden Tagen wurden nach heutigem Forschungsstand zwischen 7.000 und 8.000 Jungen und Männer auf direkten Befehl Mladics in nahegelegenen Waldgebieten erschossen und in Massengräbern verscharrt. Wie konnte der Ungeist der ethnischen Säuberungen zurück nach Europa kehren, in ein Land, welches noch wenige Jahre zuvor eines der beliebtesten Urlaubsländer der Deutschen gewesen war?

Politik der forcierten ethnischen Säuberungen

Dieses Land, Jugoslawien, gab es zu diesem Zeitpunkt schon längst nicht mehr. Bis zu dessen Tod 1980 vor allem zusammengehalten durch den kultisch verehrten kommunistischen Staatschef Tito, verschwand mit dem Ende des Kalten Krieges das letzte einigende Band, das die ethnisch-religiös-nationalen Zentrifugalkräfte des Vielvölkerstaates im Zaum gehalten hatte. Die Teilrepubliken Slowenien und Kroatien machten 1991 den Anfang und erklärten ihre Unabhängigkeit. In einer Volksabstimmung zu Beginn des Jahres 1992 stimmten 99,4 Prozent der Befragten für eine Unabhängigkeit Bosnien-Herzegowinas, wobei die serbischen Bevölkerungsteile dieses Votum boykottierten – sie wollten Teil der von Serben kontrollierten verbliebenen jugoslawischen Restföderation bleiben. Die Weltgemeinschaft erkannte im April 1992 den neuen Staat an, und nahezu zeitgleich begann mit der Belagerung Sarajevos durch bosnisch-serbische Truppen der Bosnienkrieg.

Serben, Kroaten und Bosniaken – Orthodoxe, Katholiken und Moslems – kämpften mehr als drei Jahre erbarmungslos um den Sieg und wurden dabei massiv von außenstehenden sympathisierenden Kräften unterstützt. Strategie aller Parteien war es, den Krieg durch eine Politik der gezielt forcierten sogenannten ethnischen Säuberungen zu entscheiden. Nicht zuletzt der kroatische Staatspräsident Franjo Tudjman betrieb eine gegen die Serben gerichtete Vertreibungspolitik und entging nur durch seinen Tod 1999 Anklage und Verurteilung durch den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, wie Chefanklägerin Carla Del Ponte 2011 zu Protokoll gab.

War Srebrenica also nur eines von vielen im Grunde gleichwertigen Kriegsverbrechen, welches nur aufgrund zufällig vorhandener Fotos und Videoaufnahmen und auf Wunsch des Westens, allein den Serben die Rolle des Schurken zuzuschreiben, als Chiffre eines neuen Völkermordes Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat? Auch wenn im aktuellen Diskurs in der Tat das historisch unterkomplexe Sachurteil einer serbischen Alleinschuld viele Anhänger hat, ändert das wenig an der zu Recht bestehenden herausragenden Bedeutung des Massakers von Srebrenica. Es sind in erster Linie Organisationsgrad und damit verbunden Ausmaß der Tötungsaktion, die dieses Kriegsverbrechen von allen anderen im Bosnienkrieg begangenen unterscheiden. Eine fünfstellige Anzahl von Zivilisten innerhalb weniger Tage nach Alter und Geschlecht zu trennen und einen Teil davon zu töten und verschwinden zu lassen, ist in der Geschichte Europas seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ein einmaliger Vorgang. Seit 2005 nehmen auch hochrangige Vertreter der serbischen Regierung an den jährlich stattfindenden Gedenkveranstaltungen in Srebrenica teil und haben sich mehrfach für das Verbrechen entschuldigt. Die offizielle Einstufung als Völkermord lehnt man jedoch bis heute ab.

 In Europa außerhalb des Vorstellungsrahmens 

Hilflos sah die Welt im allgemeinen und Deutschland im besonderen dem brutal geführten Bürgerkrieg mit über 100.000 Toten zu. Eine religiös grundierte Auseinandersetzung dreier Ethnien im Kampf um nationale Selbstbehauptung stand schlicht außerhalb des Vorstellungsrahmens Resteuropas. War nicht gerade erst mit dem Sieg der liberal-kapitalistischen Weltordnung das „Ende der Geschichte“ (Francis Fukuyama) und somit das Ende aller weltpolitischen Widersprüche proklamiert worden? Und nun stand die Geschichte in Gestalt von ethnischer und religiöser Identität wieder vor der Tür eines verteidigungsunfähigen Kontinents, der in Thomas Karremans seine idealtypische Verkörperung gefunden hat. Srebrenica zeigt, wohin eine zur Staatsräson erklärte identitätspolitische Aufrüstung einer fragmentierten Gesellschaft im Extremfall führen kann. Es verbietet sich daher, den identitätspolitischen Furor der Gegenwart, der sich im Gewand des Universalismus kleidet, zu unterschätzen. Ein Blick in die Geschichte zeigt: Gestürzte Statuen, zensierte Filme oder indexierte Bücher markieren lediglich den Beginn zu etwas Größerem.