© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Splitter der Philosophie finden sich überall
Der niederländische Philosoph Ger Groot zeigt, welches Wesen des Menschen sich im Wechsel von Kunst und Denken offenbart
Felix Dirsch

Philosophiegeschichtliche Abhandlungen, auch solche über die Moderne, liegen zuhauf vor. Derzeit wird vor allem der dritte Band von Richard D. Prechts auf vier Teile angelegter Philosophiegeschichte diskutiert, der sich mit der Geistesentwicklung im 19. Jahrhundert beschäftigt.

Viele solcher Traktate kranken an ihrem fehlenden Bezug zu aktuellen Debatten. Was haben uns Denker wie Descartes, Spinoza, Leibniz, Hegel und viele andere noch zu sagen? Lohnt es, sich mit ihnen in einer Zeit auseinanderzusetzen, deren Errungenschaften, von der Nanotechnologie bis zu Künstlicher Intelligenz, den Alltag des Menschen zukünftig noch gehöriger durcheinanderwirbeln werden, als sie es ohnehin schon tun?

Der niederländische Philosoph Ger Groot beantwortet diese Frage mit einem klaren Ja. Seine Erörterungen verdeutlichen auf faszinierende Weise, daß man Welt und Mensch nicht anders verstehen kann als durch den Rekurs auf bedeutende philosophische Sichtweisen. Sinnvollerweise begrenzt er sich weitgehend auf die Moderne. 

Einen besonderen Reiz auf die Leser üben die vielfältigen Querverweise zu Werken der Kunst, der Literatur, der Filmkultur und der Architektur aus. Hier werden mittels Illustrationen Hinweise auf Bild und Selbstbeschreibung des Menschen in unterschiedlichen Epochen gegeben. 

Groot rekapituliert nicht einfach die Ansichten großer Denker der letzten 500 Jahre, weder in systematischer noch in doxographischer Weise. Er zeigt vielmehr in 23 Kapiteln neben dem einleitenden und dem abschließenden Abschnitt die zahllosen, oft gebrochenen Wirkungen der großen Vertreter des Geistes auf unsere heutige Lebens- und Alltagswelt.

Neben den in solchen Darstellungen üblichen Themenfeldern beispielsweise der humane Subjektcharakter, der freie Wille, der Tod Gottes, das Unbewußte, Republikanismus sowie Universalismus und die Schrift betrachtet der Autor Traditionslinien neu, die seit kurzem wieder aktuell sind: Dem Volk und seinen Eigenarten schenkt er einige Aufmerksamkeit. Leibniz, Herder und Walter Scott dienen als Gewährsleute.

Nehmen wir einen der Gedankengänge Groots heraus: In der frühen Neuzeit beginnt – so ein zentrales Deutungsnarrativ – die Selbstermächtigung des Menschen. Dessen Daseinssinn und Handlungsauftrag müssen nunmehr in biologisch vorgegebenen Bandbreiten autonom bestimmt werden und lösen sich tendenziell von jedweder Theonomie. In solchen Prozessen liegt die Quintessenz des neuzeitlichen Dramas. Diesen Wendepunkt markiert in der Denkgeschichte pointiert der Descartessche Hiatus: Die Vernunft stellt der Franzose als res cogitans der res extensa gegenüber. Damit wird der Körper als Maschine im Verhältnis zur Seele verselbstständigt. Der Geist ist noch an die Hülle gekoppelt, was zu Descartes Zeiten und noch lange danach auch nicht anders vorstellbar war. Er kann aber von dem äußerlichen Gehäuse weitgehend differenziert werden. Im Laufe der Denkgeschichte, etwa bei dem radikalen Aufklärer Julien de La Mettrie, emanzipiert sich die Bedeutung der Materie immer mehr von mentalen Prozessen, die zur bloßen Funktion von Mechanik und Kausalität degradiert werden. Diese monistische Richtung bestimmt im Laufe der Jahrhunderte die Debatte. 

Längst ist für Posthumanisten verschiedener Spielarten ausgemacht, daß Intelligenz künstlich-technisch erzeugt werden könnw und über kurz oder lang den Menschen beherrschen werde. Während nunmehr Faktoren wie Geist, Seele, Ich und Persönlichkeit, die einst die Vorrangstellung der „Krone der Schöpfung“ begründeten, als kybernetisch und neurologisch rekonstruierbar erklärt werden, schreibt man Maschinen Fähigkeiten zu, die früher als ausschließliche Domäne des Menschen galten: Denkende Apparaturen bestimmen unseren Alltag in immer stärkerem Maß. Die Maschinen – beispielsweise die immer mehr in Mode kommenden humanoide Roboter – passen sich dem Menschen an. Bei Descartes wirkten lediglich die äußeren Teile des Menschen wie Maschinen nach den Gesetzen von Ursache und Wirkung. Er gab aber wesentliche Anregungen für spätere Differenzierungen.

Kants Frage „Was ist der Mensch?“ bleibt offen 

Die Kehre Descartes’ wirkt weiter: Sie ist bei Kant, erst recht aber bei Marx, Nietzsche, Heidegger und Sartre zu erkennen: Der Platz Gottes bleibt leer. Diese Erkenntnis ist nicht neu – gerade, wenn man die Diskussionen in der unmittelbaren Gegenwart um den Menschen in den Blick nimmt. Zwar war das Wissen um dessen Existenz noch nie so vielfältig, interdisziplinär und dicht, aber die konsistente Integration einer derartigen Fülle läßt die Wissenschaft oft an ihre Grenzen stoßen. So gibt es nach wie vor unzählige Antworten auf die alte Kantsche Frage: „Was ist der Mensch?“ 

Der Diskurs darüber ist so unabgeschlossen wie nur denkbar. Groot nähert sich den entsprechenden aktuellen Kontroversen über Stichworte, die im letzten Kapitel vorgestellt werden: Kakophonie; denkende Maschine; Zauberlehrling; unverwechselbar; Anthropozän; Ökosysteme; 2001. Man darf dem Autor, der aus der Erfahrung jahrzehntelanger Lehr- und Publikationstätigkeit schöpft, danken, einen derart opulenten Band geschaffen zu haben. Dieser stellt nicht nur aufgrund seines Bezuges zu den Künsten einen Augenschmaus dar, sondern setzt darüber hinaus Anreize, sich mit dem Abenteuer neuzeitlicher Geistesgeschichte wieder oder erstmals zu beschäftigen.

Ger Groot: Und überall Philosophie. Das Denken der Moderne in Kunst und Popkultur. Dtv Verlagsgesellschaft, München 2019, gebunden, 334 Seiten, Abbildungen, 30 Euro