© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Anekdoten entlang von Napoleons Feldzügen
Der Historiker Thomas Schuler nähert sich dem französischen Kaiser und Feldherrn, indem er Orte seines Wirkens porträtiert
Filip Gaspar

Napoleon Bonaparte, der französische General, Konsul und spätere Kaiser, ist vor fast 200 Jahren in der Verbannung auf der Insel St. Helena verstorben. Mehr als eine halbe Million Bücher sind über ihn verfaßt worden, doch das Interesse an seiner Person scheint weiterhin ungebrochen zu sein. Anders ließe sich kaum erklären, warum stetig neue Bücher erscheinen. 

Der Historiker und ausgewiesene Napoleon-Experte Thomas Schuler schlägt in seinem Buch einen neuen Weg ein, um Zugang zur Person Napoleon zu erhalten. Statt einer weiteren klassischen Biographie ist er im wahrsten Sinne des Wortes dessen Spuren zu ausgewählten Schauplätzen seines Wirkens gefolgt. Dort versuchte er überlieferten Erzählungen und Legenden nachzuspüren. 

Der Autor leitet den Leser und führt ihn an Orte, an denen Napoleon glorreiche Siege eingefahren oder bittere Niederlagen erlitten hat. Los geht es beim Alpenpaß Großer St. Bernhard. Weiter über London, auch wenn Napoleon die Stadt nie betreten hat. Ins Buch hat es London jedoch geschafft, weil die Stadt voller Andenken an Napoleon steckt. 

Reisebucheinträge von Venedig bis Moskau

Danach führt der Weg nach Regensburg, Venedig, Paris, Berlin, Moskau und Kaub am Rhein bis schließlich nach Waterloo. In Venedig wartet das alte jüdische Viertel, von dem sich auch der Begriff Ghetto ableitet. Waterloo südlich von Brüssel, in dessen Schlacht 1815 über 100.000 Soldaten ihr Leben lassen mußten, zieht heute Touristen aus der ganzen Welt an. 

Schuler legte sich für die Verwirklichung des Buches ins Zeug. Er besuchte die einstige Herberge auf dem St. Bernhard, die Napoleon und seiner Armee schon Obhut gegeben hatte, sah sich bei Moskau Orte an, die noch den brutalen Rückzug der französischen Armee aus Rußland bezeugen. Um seinen Einzug in Berlin noch lange nachhallen zu lassen, wendete er einen, wie man heute sagen würde, Marketingtrick an. Auf seiner Reise begegnen Schuler Einheimische und auch Nachfahren damaliger Beteiligter, die heute mit den Nachwirkungen der Taten Napoleons leben müssen. So wie die Verkäufer von Überbleibseln aus dem Rußlandfeldzug. Unter den Nachfahren findet sich zum Beispiel ein Urururenkel von Beauharnais. Eugène de Beauharnais war Napoleons Stiefsohn und Kommandant in Rußland gewesen.

Jeder Station ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Diese wiederum sind in viele einzelne Einträge unterteilt, die oft nur einige Seiten kurz sind und sich wie Reisebuchnotizen lesen. Doch keineswegs dröge, denn die Art und Weise, wie Schuler historische Fakten darstellt, ist erfrischend. Diese werden nebenbei in die Erzählung eingewoben und ergänzen Schulers Erläuterungen. Es ist auch keine Fakten-, sondern eine Anekdotensammlung entstanden. Mit dieser versucht Schuler neue Sichtweisen auf die damaligen Begebenheiten zu vermitteln. Was für ein Gefühl es wohl gewesen sein muß, mit über 40.000 Soldaten samt Ausrüstung über die Alpen zu marschieren. Und was wurde eigentlich aus Marengo, Napoleons berühmten Araberhengst?

Das heutige Bild von Napoleon ist von Land zu Land unterschiedlich. Eine historische Persönlichkeit ist nicht mit den Kategorien gut oder schlecht zu beschreiben. Europa hat Napoleon den Code civil zu verdanken, der in vielen europäischen Staaten die Grundlage späterer zivilrechtlicher Normen werden sollte. Und daß er nicht alleinverantwortlich für die nach ihm benannten Napoleonischen Kriege war, kann getrost als Treppenwitz der Geschichte bezeichnet werden.

Man muß Schuler danken, daß zwischen all den Werken zu Napoleon seines positiv aus der Masse herausragt. Für jeden Napoleon-Fan und jeden, der es noch werden will, ist Schulers Buch deshalb Pflichtlektüre.

Thomas Schuler: Auf Napoleons Spuren. Eine Reise durch Europa, Verlag C. H. Beck, München 2019, gebunden, 408 Seiten, 26,95 Euro