© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/20 / 03. Juli 2020

Vertrauen auf trickreiche Technik
Der „Aktionsplan Stromnetz“ der Bundesregierung setzt auf Verstärkung statt Ausbau
Christoph Keller

Dank windreichem ersten Quartal, sonnigem Frühling und dem Corona-Shutdown wurde im ersten Halbjahr erstmals mehr Strom aus „erneuerbaren“ Quellen ins deutsche Netz eingespeist als aus konventionellen Energieträgern. „Allein die Windkraft liefert inzwischen mehr Strom als Braun- und Steinkohle zusammen“, freut sich Nick Heubeck, verantwortlich für „Social Media & Press Strategy“ bei „Fridays for Future“ (FFF). Daß dies nur Durchschnittswerte sind und ohne Stromimporte bei Dunkelflauten das Netz längst mehrfach zusammengebrochen wäre, verschweigt der Bamberger „Communication & Politics“-Student.

„Verstärkung vor Ausbau“ und ganz neue Netzbooster

Der Diplomphysiker Jan Oliver Löfken müßte es eigentlich besser wissen. Doch auch sein jüngster Artikel über den „radikalen Umbau des Energiesystems“ und die dafür unabdingbare Optimierung der von Nord- nach Süddeutschland führenden Stromautobahnen (Bild der Wissenschaft, 5/20) klingt wie das Skript für ein Werbevideo der Windkraft-Lobby. Der Wissenschaftsjournalist glaubt daran, daß die Kohleverstromung in Deutschland „ab 2038 Geschichte sein wird“. Und wie Heubeck freut er sich darauf wie auf den Atomausstieg Ende 2022. Was ihn keineswegs besorgt, denn schon 2019 sei fast die Hälfte des Stroms von Wind, Sonne, Biomasse und Wasserkraft erzeugt worden.

Ein Anteil, der bis 2030 gewiß auf 65 Prozent steigen werde, 2050 bei mindestens 80 Prozent liege, bevor irgendwann danach eintrete, was „etliche“, freilich von Löfken nicht namentlich zitierte „Wissenschaftler“ für möglich halten: Die gesamte Stromnachfrage einer (heute noch) führenden Industrienation lasse sich mit den „Erneuerbaren“ befriedigen. Vorausgesetzt, der in den Nord- und Ostsee-Windparks erzeugte Löwenanteil des grünen Stroms gelange – dem Ausstiegsfahrplan der Bundesregierung gehorchend – so sicher in die Industiezentren West- und Süddeutschlands wie zur Zeit von Kohleriesen und Atommeilern. Was, wie Löfken einräumt, aber nicht gewiß sei.

Bislang seien leider nur Fragmente der insgesamt 2.000 Leitungskilometer fertiggestellt oder im Bau. „Auf dem größten Teil der Trassen hat sich noch nichts getan.“ Auch von den für 2030 geplanten 6.000 Kilometern neuer Stromautobahnen stehen 2020 keine sechs Prozent zur Verfügung. Warum geht es nicht flotter voran? Weil die Bevölkerung bremst, weil sich in Bürgerinitiativen Widerstand organisiert, weil die künftigen Nachbarn projektierter Energiehighways gegen diese Heimatverschandelung vor Gericht ziehen. Hier formiere sich der gleiche hartnäckige Widerstand wie der gegen Windturbinen, der die „aktuelle Flaute“ bei deren Ausbau verursache.

Das Bundeswirtschaftsministerium hat darauf mit einem „Aktionsplan Stromnetz“ reagiert, der eine Doppelstrategie verfolgt, um bis 2025 drohende Versorgungsengpässe zu vermeiden. Parallel zu dem von uneinsichtigen Bürgern verschleppten, gleichwohl ohne Abstriche zu realisierenden Netzausbau sollen die bestehenden Leitungen nach dem Prinzip „Verstärkung vor Ausbau“ aufgerüstet werden: mit Hochtemperaturleitern, mehr Netzkontrolle ermöglichenden, Leistungsflüsse steuernden Statcom-Anlagen und Phasenschiebern sowie bedarfsregulierendem Freilandmonitoring. Dafür könne man auch auf die „trickreiche Technik“ der neuen „Netzbooster“ zurückgreifen. Das sind Speicher mit Lithium-Ionen-Batterien. Die Kapazität der BigBattery Lausitz beträgt lediglich 53 Megawattstunden (MWh) – das benachbarte Kohlekraftwerk Schwarze Pumpe speist allerdings jährlich zehn Millionen MWh ins Stromnetz ein (JF 20/20).

Wind- und Solarkraft sind nicht „schwarzstartfähig“

Die „Ausgleichspuffer“ sollen die Verfügbarkeit von norddeutschem Windstrom bei den süddeutschen Abnehmern verbessern und für eine hundertprozentige Auslastung der Netzkapazität sorgen, andererseits „im Krisenfall“ durch schnelle Zwischenspeicherung einen Blackout verhindern. Allerdings, so Löfken, gebe es die „pfiffigen“ Netzbooster erst auf dem Papier des „Netzentwicklungsplans 2030“ der vier deutschen Übertragungsnetzbetreiber Tennet, Amprion, 50Hertz und TransnetBW. Als Pilotprojekt errichtet Tennet jetzt ein Netzbooster-Paar an den beiden Engpässen der Nord-Süd-Stromschiene im holsteinischen Audorf und im oberbayerischen Ottenhofen. Drei weitere Paare mit höheren Leistungen bis zu 500 Megawatt sollen bis 2022 folgen.

„Stand der Technik“ seien die Netzbooster aber noch nicht, warnt der Elektroingenieur Christoph Maurer von der Aachener Firma Consentec. In Audorf und Ottenhofen handele es sich um ein Pilotprojekt, das die Anforderungen des flächendeckenden Einsatzes erproben soll. Zudem seien solche Speicher mit einem Stückpreis von gut 100 Millionen Euro nicht ganz billig. Daher sei zumindest in der Pilotphase kein positives Kosten-Nutzen-Verhältnis zu erwarten. Und großflächig einsetzbar wären sie nur, wenn sie wirtschaftlich arbeiteten. Obwohl dies noch in den Sternen steht, zitiert Löfken Maurers kühne Prognose, der zufolge die Maßnahmen zur Netzverstärkung für den Stromkunden „kostenneutral“ blieben. Der Haushaltsstrom werde so „nicht teurer, sondern mittel- bis langfristig sogar billiger“. Obwohl Löfken die Haken und Ösen des Netzausbaus, seine Unwägbarkeiten, Risiken und spekulativen Elemente referiert, lautet das frisch-fröhliche Fazit: Langfristig sei Deutschland damit auf den auch durch E-Autos und die Elektrifizierung des Wärmesektors wachsenden Strombedarf „gut vorbereitet“.

Ein Optimismus, den Löfkens Kollege Ralf Butscher auch hinsichtlich des „Krisenfalls Blackout“ teilt. Denn „clevere, trickreiche Technik und eine flexible Steuerung“ würden in der dezentralisierten Energiewende-Netzstruktur den „Wächter über Versorgungssicherheit“ übernehmen, wenn es konventionelle Kraftwerke nicht mehr gebe. Dafür müßten Wind- und Solarkraft jedoch „schwarzstartfähig“ sein, wie Hermann de Meer, Informatikprofessor an der Uni Passau, zu bedenken gibt. Das heißt: das Stromnetz nach einem Blackout aus eigener Kraft wieder anfahren zu können. Bei „fossilen Kraftwerken“ gehört das zu deren Systemleistungen, während das Versorgungsnetz der Erneuerbaren dazu externe, bislang nur rudimentär vorhandene Speicherkapazitäten benötige. Aber ohne Schwarzstartfähigkeit könne die Energiewende nicht gelingen.

Bis die hergestellt ist, setzt das Technische Hilfswerk (THW) lieber auf bewährte Technik. 33 Millionen Euro will das THW in 670 Diesel-Notstromaggregate investieren – um sich auf das schaurige Szenario vorzubereiten, das das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Bundestag für einen „massiven Blackout“ entwirft. Es wäre dies eine Katastrophe mit Ansage, die „das Leben in Deutschland rasch an seine Grenzen führen würde“. Ein Risiko, das der Diplomphysiker Butscher für „überschaubar“ hält, sei Deutschland doch mit dreizehn jährlichen Ausfallminuten Weltspitze bei Stromnetzstabilität. Was Butscher wie der FFF-Student Heubeck übersehen: dank „fossiler Kraftwerke“.

Netzentwicklungsplan 2030:  netzentwicklungsplan.de

Forschungsprojekt Schwarzstart – neue Strategien gegen Blackout:  fim.uni-passau.de