© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

„Das ist beginnender Totalitarismus“
Boris Reitschuster gehörte lange zum medialen Establishment. Heute übt der Bestsellerautor und Ex-Rußland-Korrespondent des Focus scharfe Kritik an seinem Berufsstand: mehr und mehr erinnere ihn die Atmosphäre in Deutschland an seine Erfahrungen in Putins Reich
Moritz Schwarz

Herr Reitschuster, was bitte ist ein „Wieselwort“? 

Boris Reitschuster: Das Wiesel saugt dem Ei angeblich den Inhalt aus, ohne daß man dies der leeren Schale danach ansieht. Publizist Josef Kraus erklärt in einem Gastbeitrag für meine Seite reitschuster.de mit diesem aus den USA stammenden Wort die Degenerierung von „Toleranz“: von einem einst ehrwürdigen und bedeutungsvollen Begriff der Aufklärung zur hohlen Phrase heute. 

Nämlich? 

Reitschuster: Zum einen, wenn das Wort benutzt wird, um Verständnis zum Beispiel für Homosexuellen-Verfolgung oder Zwangsbeschneidung in anderen Kulturen zu fordern. Zum anderen, wenn im Namen der „Toleranz“ Toleranz anderen Meinungen gegenüber für inakzeptabel erklärt wird. Dabei kommt es zu Absurditäten wie dieser auf der bundesweit beworbenen, zentralen Anti-AfD-Demo in Berlin im Mai 2018, auf der es vor allem zwei Mottos gab: „Gegen den Haß!“ und „Ganz Berlin haßt die AfD!“ – Dabei ist diese intellektuelle Schizophrenie nicht einmal das Erstaunlichste, sondern, daß sie keinem auffällt!    

Warum ist das so? 

Reitschuster: Berechtigte Frage, denn nicht nur die Logik widerspricht sich, auch die Fakten passen nicht: So mußte selbst der Tagesschau-„Faktenfinder“ zugeben, daß von allen Parteien am häufigsten die AfD Opfer von Gewalt wird. Sie fragen: Warum ist das so? Weil nicht verstanden wird, daß die Lehre aus der historischen Erfahrung des nationalen und des internationalen Sozialismus sein müßte, daß niemand für sich „die Wahrheit“ in Anspruch nehmen sollte. Da sonst alle mit anderer Meinung „zum Abschuß“ freigegeben sind. Wenn jüngst ARD-„Monitor“-Moderator Georg Restle in der Debatte um den Rauswurf des Meinungschefs der New York Times twitterte, man solle „nicht jeden Mist als Ausdruck von Meinungsvielfalt mißverstehen“, ist er in die Totalitarismusfalle gegangen – weil er sich anmaßt zu beurteilen, wessen Meinung zählt und wessen Meinung „Mist“ ist. 

Also lautet die Antwort auf die Frage eben: weil die Medien es die Bürger so lehren? 

Reitschuster: Ja. Denken Sie an Salomon Aschs „Konformitätsexperiment“ von 1951, bei dem Probanden unter vier schwarzen Linien die zwei gleichlangen zu erkennen hatten. Allerdings waren in jeder Runde bis auf einen alle Probanden eingeweiht und gaben geschlossen zwei offensichtlich nicht gleichlange Linien als gleichlang an. Resultat: Nur etwa 25 Prozent der nicht Eingeweihten beharrten entgegen der Mehrheit auf den offensichtlich gleichlangen Linien. Dreiviertel dagegen paßten ihre Entscheidung, entgegen ihrer visuellen Wahrnehmung, der Mehrheitsmeinung an! Und eben diesen Konformitätsdruck erzeugen auch unsere Medien – anstatt die Menschen dazu anzuleiten, selbst zu denken. 

Wie ist es möglich, daß gerade jene, deren demokratischer Auftrag es ist, zur Mündigkeit der Bürger beizutragen, diese entmündigen? 

Reitschuster: Natürlich ist das völlig absurd! Die Ursachen haben auch mit der Frankfurter Schule, Jürgen Habermas oder der Reeducation zu tun, die dazu beigetragen haben, eine Kultur des missionarischen Eifers zu etablieren, in der sich Journalisten, aber ebenso Künstler, Intellektuelle etc., als Erzieher verstehen. Ich nenne das „Haltungsjournalismus“ oder „betreutes Informieren“. Dabei ermahnte noch der Gründer und erste Moderator von „Monitor“, Claus Hinrich Casdorff, seine Redakteure: „Wer predigen will, soll in die Kirche gehen!“ Doch heute heißt der Chef dort eben Georg Restle und Leute wie er sind in vielen Redaktionen tonangebend.

Sie kommen aus dem etablierten Medienbetrieb: haben Sie je Kollegen auf diesen Widerspruch angesprochen? 

Reitschuster: So unglaublich es klingt, die sehen diesen gar nicht. Als ich neulich zu einer Demonstration von Attila Hildmann in Berlin ging, warf mir das Nicole Diekmann vor.

Also jene ZDF-Korrespondentin, die im Januar für Furore sorgte, als sie privat „Nazis raus!“ twitterte und auf Nachfrage, wer für sie Nazi sei, provokativ nachschob: „Jede/r, der/die nicht die Grünen wählt.“

Reitschuster: Ja. Jedenfalls verlangte sie, ich solle ihr erklären, warum ich dorthin ginge. Ich war echt baff! Was bitte hat Frau Diekmann denn in der Journalistenschule gelernt!? Daß man über etwas berichtet, ohne es sich anzusehen? Aber das ist denen bereits so in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie in der Tat nicht mehr hingehen – weil man mit der „richtigen“ Haltung schließlich auch vom Schreibtisch aus das „Richtige“ berichten kann. Und Kollegen, die noch vor Ort sein wollen, haben sich dafür zu rechtfertigen. Diese völlige Verschiebung aller journalistischen Werte macht fassungslos!

Wie haben Sie reagiert?

Reitschuster: Ich habe mir Zeit für eine lange Antwort genommen, um all das zu erklären – aber da hatte sie auf Twitter den Dialog schon abgebrochen. Aber das ist typisch: Diese Leute wollen die Gegenpositionen gar nicht hören. Lieber bleiben sie in ihrer Blase. Das ist eben viel angenehmer und man hat dann immer recht. Während sie aber genau solches Verhalten Normalbürgern im Internet vorwerfen. Es sind eben Glaubenskrieger. Früher konnte ich mir nicht vorstellen, wie das im Deutschland der dreißiger Jahre oder später in der DDR gewesen ist – aber jetzt erleben wir es selbst mit: Die fanatischen Eiferer und die Opportunisten, die schamlos allem zustimmen, um sich in der neuen Zeit vorteilhaft zu positionieren. 

Also nicht mehr Vierte Gewalt, sondern ...? 

Reitschuster: Doch – nur nicht mehr im Sinn einer kontrollierenden, sondern einer repressiven Gewalt: Wie eine Art Rote Garde in der chinesischen Kulturrevolution, die die Politik vor sich hertreibt – oder iranischer Wächterrat, der die Orthodoxie garantiert. 

„Totalitär“, „Rote Garde“, „Wächterrat“ – was sagen Sie Leuten, die Ihnen vorwerfen, vollkommen zu übertreiben?

Reitschuster: Ich bitte Sie, der Meinungschef der New York Times wird entlassen, weil er einem republikanischen Senator einen Gastbeitrag eingeräumt hat, in dem der forderte, wegen der Unruhen nach dem Mord an George Floyd die Nationalgarde einzuberufen. Der Demographiebeauftragte der Landesregierung in Stuttgart muß um seinen Job fürchten, weil er daran erinnerte, daß George Floyd kein Heiliger war, sondern vorbestraft. Der Chef der Landesfilmförderung in Hessen war fällig, weil er mit einem AfD-Vorsitzenden zu Mittag aß. Eine Schule lehnte ein Kind ab, weil der Vater für die AfD im Berliner Abgeordnetenhaus sitzt. Die Mitglieder der Partei werden in vielen Restaurants nicht mal mehr bedient. Der Berliner Friedrichstadtpalast lädt sogar bloße AfD-Wähler ausdrücklich aus. Und die Bundestagsfraktion mußte für eine Klausur nach Polen fahren, weil sie hierzulande keine Räume bekommen konnte. Sogar demokratische Wahlen gelten den Medien als „Skandal“ und werden auf Geheiß der Kanzlerin annulliert. Es ist enorm beunruhigend, daß man überhaupt erklären muß, daß ein Land, in dem so eine Stimmung herrscht, ein Problem mit der Meinungsfreiheit hat. Und der Fall des Demographiebeauftragten etwa – das ist wirklich beginnender Totalitarismus!

Warum?

Reitschuster: Weil hier nicht einmal bloße Fakten genannt werden durften. Sicher, der Zustand des Totalitären ist noch nicht erreicht – dann sähe es nochmals ganz anders aus. Aber daß gar nicht erkannt wird, auf welchem Pfad man ist, macht den Weg dorthin nur um so kürzer! Ich will Ihnen einen russischen Witz erzählen: Marschall Schukow, der Sieger von Berlin, brummt nach einer Audienz bei Josef Stalin: „Ein Arsch mit Schnurrbart!“ Das hört Stalins Sekretär und Speichellecker Poskrjobyschew und verpfeift ihn. Zur Rede gestellt, gibt Schukow sofort alles zu: „Wer, Genosse Stalin, würde so etwas nicht sagen – über Hitler?! Aber, lieber Genosse Poskrjobyschew, an wen haben Sie denn dabei gedacht?“ Der Witz beschreibt die wahnwitzige ideologische Situation in Deutschland, in der nun überall Rassismus gewittert wird: Jene, die das tun, sind wie Poskrjobyschew und die wahren Rassisten. Weil ihr Wittern offenbart, daß sie in dieser Kategorie denken! Während die meisten der „Rassisten“ einfach gar nicht auf in der Kategorie Hautfarbe achten – und damit die wahren Antirassisten sind.     

Haben Sie denn Ihre Erfahrungen als Korrespondent in Rußland dafür sensibilisiert?

Reitschuster: Sehr! Alleine schon, daß ich so lange dort und nicht hier war. Sie kennen ja das Bild von den Fröschen, die im langsam zum Sieden gebrachten Wasser verharren, statt herauszuspringen, weil sie die allmähliche Veränderung der Temperatur nicht wahrnehmen. Als ich nach 16 Jahren zurück nach Deutschland kam, „kochte das Wasser“ schon, seit 2015 sprudelt es! Ich erkenne das Land nicht mehr wieder. Und wie die Frösche merken das viele hier gar nicht. Tatsächlich habe ich seitdem beinahe jeden Tag hierzulande ein Rußland-Déjà-vu: Es ist so vieles so ähnlich, daß ich denke, man müßte blind sein, um das nicht zu sehen! Ich vergesse dann, daß ich durch meine vielen Jahren der Erfahrung mit Putins autoritärem Regime einen Blick für all die subtilen Manipulationen entwickelt habe. Ich erlebe auch oft, wie Ostdeutsche, die die DDR noch erlebt haben, sich entweder im System Merkel heimisch fühlen oder es klar durchschauen, während die Westdeutschen die Gefahren meist nicht verstehen, weil sie keine Erfahrung mit autoritären Methoden haben. Und ich gebe zu, hätte ich sie nicht gemacht, würde ich wahrscheinlich die Situation hier auch viel weniger kritisch sehen, als ich es jetzt tue – ja, ich wäre vielleicht sogar auf der Seite derer, die bei dieser totalitären Entwicklung brav mitmachen, weil ich sie auch nicht durchschaute. 

Welche Übereinstimmungen mit Putins Rußland sehen Sie?

Reitschuster: Putin und Merkel sind beide in kommunistischen Kaderorganisationen sozialisiert. Und sie sind politische Chamäleons. Putin erscheint vielen als Patriot, der sich um sein Volk kümmert. Tatsächlich ist er eine Mischung aus KGB und Mafia. Auch bei Merkel gehen Worte und Tat extrem auseinander. Sie gibt sich als Putin-Kritikerin. Blickt man aber auf ihre Taten, und da hat Donald Trump völlig recht, kann sich Putin immer auf sie verlassen. Vor allem aber: Beide wissen die Komplexe ihres Volkes auszunützen. Putin gibt den Russen, die sich durch die Geschichte gedemütigt fühlen, das Gefühl, wieder die Starken zu sein;  Merkel emöglicht den sich schuldig fühlenden Deutschen, sich endlich als die Guten zu fühlen. Und die Bösen, die das stets hintertreiben, sind in Rußland die Amerikaner, die an allem schuld sind, und in Deutschland die „Rechten“. Oder nehmen Sie das Delegieren der Schmutzarbeit an formell private Einrichtungen, wie hierzulande etwa die Amadeu-Antonio-Stiftung, das ist auch so etwas Typisches. Auf diese Weise haben weder Merkel noch Putin etwas mit deren Machenschaften zu tun. 

Sie wollen ernstlich sagen, Deutschland und Rußland stehen auf einer Stufe? 

Reitschuster: Nein. Beide Länder sind sehr unterschiedlich, haben aber auch leider viel gemein. Rußland etwa hat im Privaten mehr plurale Meinungsfreiheit. 

Bitte? 

Reitschuster: Ich weiß, Deutsche stellen sich vor, in Rußland dürfe man nichts sagen – das Gegenteil ist richtig. In Rußland ist die Unfreiheit nicht ideologisch gefärbt und damit der Meinungskorridor viel breiter als hier – die verschiedenen politischen Denkweisen genießen dort also mehr Freiheit. Kritisch wird es aber, wenn man sich explizit öffentlich gegen Putin stellt. Doch ist es auch nicht so, daß jeder Kritiker bestraft wird. Ich etwa gelte in Rußland geradezu als Staatsfeind, mußte sogar wegen eigenmächtiger Todesdrohungen durch Putin-Anhänger sicherheitshalber das Land verlassen. In Deutschland bin ich dagegen kaum bedroht. Dennoch werde ich in Rußland ins Staatsfernsehen eingeladen – in Deutschland dagegen ist das undenkbar!

Dafür werden einzelne Kritiker, etwa Boris Nemzow, mit dem Sie befreundet waren, ermordet. 

Reitschuster: Ja, das haben wir hier in Deutschland zum Glück natürlich nicht! Dem Mord an ihm ging eine üble Entmenschlichung, etwa durch Verunglimpfung als Faschist und Nazi voraus. Deshalb bin ich auch so unglaublich allergisch gegenüber entmenschlichender Darstellung politischer Gegner, wie sie in Deutschland an der Tagesordnung ist. In Rußland gibt es in der Gesellschaft mehr Bereitschaft, andere Meinungen zu akzeptieren. Daß sich etwa Renate Künast und Alexander Gauland zum Gespräch im Café treffen – undenkbar! In Rußland dagegen ist es möglich, daß auch Menschen völlig unterschiedlicher politischer Meinung befreundet sind, während hier daran Freundschaften zerbrechen, Familien sich spalten, Enkeln gar der Umgang mit den Großeltern verboten wird, weil die AfD wählen. Und wenn ich russischen Oppositionellen sage, daß Politiker in Deutschland nicht in Restaurants oder ihre Kinder nicht an bestimmte Schulen dürfen, sind die völlig überrascht, weil sie so was in Rußland nicht erleben. Natürlich ist es besser, nicht ins Lokal gehen zu können, als getötet zu werden – keine Frage! Und doch ist Putins Rußland in mancher Hinsicht weit liberaler als Merkels Deutschland. Und da müßten in unserer Demokratie alle Alarmlampen blinken! Doch das passiert nicht, weil in Deutschland der Mechanismus greift, zu glauben, das geschehe ja alles  für das „Gute“. Nicht verstehend, daß genau dies das Denken der Diktaturen ist! Selbst die Nazis sagten ja nicht, wir tun Böses, sondern haben den Menschen plausibel den Eindruck vermittelt, alles geschehe um des Guten willen. Das ist das Tragische in Deutschland, daß viele jener, die glauben, sie würden gegen die Wiederholung der Geschichte ankämpfen – sie tatsächlich wiederholen.






Boris Reitschuster, gilt als einer „der führenden Rußland-Experten“ (Cicero) und „schärfsten Putin-Kritiker Deutschlands“(Welt). Geboren 1971 in Augsburg, arbeitete er zunächst für die Thüringer Allgemeine, dpa und die französische Nachrichtenagentur AFP. 1999 übernahm er bis 2015 für das Nachrichtenmagazin Focus die Leitung dessen Moskauer Büros. Außerdem verfaßte er mehrere Bestseller, etwa „Putins Demokratur. Wie der Kreml den Westen das Fürchten lehrt“ (2006) oder „Putins verdeckter Krieg. Wie Moskau den Westen destabilisiert“ (2016) und schrieb Gastbeiträge für verschiedene Medien, wie Washington Post, Guardian, FAZ oder Münchner Merkur. Im Dezember 2019 startete der 2008 mit der Theodor-Heuss-Medaille geehrte freie Journalist seine erfolgreiche Nachrichtenseite mit bereits bis zu einer Million Zugriffen pro Monat.    

Foto: Merkel vor Journalisten: „Die Medien erzeugen Konformitätsdruck, statt die Menschen anzuleiten, selbst zu denken ... Merkel nutzt den Komplex der Deutschen, sich als die ‘Guten’ zu fühlen“

 

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