© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

documenta – Epizentrum westlicher Hegemonialkultur
Kein unbefleckter Gegenentwurf
(dg)

Sein Essay „Deutschland reinwaschen“, der sich mit der Geschichte der 1955 gegründeten Kasseler „documenta“ beschäftigt, gerät dem Frankfurter Journalisten Ingo Arend zur antifaschistischen Generalabrechnung (Blätter für deutsche und internationale Politik, 6/2020). In Verbindung mit Enthüllungen über den zwar ab 1937 als „entartet“ gebrandmarkten, aber „antisemitischen“ Maler Emil Nolde, die im April 2019 zum Bildersturm im Kanzleramt, dem Abhängen von zwei Nolde-Gemälden, führten (JF 16/19), wurden Monate später auch Archivfunde bekannt, die eine „NS-Nähe“ des Nolde-Biographen Werner Haftmann (1912–1999) belegen. Der 1976 zum ersten Direktor der Neuen Nationalgalerie in Berlin ernannte Zeit-Feuilletonist, einer der lautesten Propagandisten der künstlerischen Moderne in der Bonner Republik, der die Leitideen der ersten documenta-Ausstellungen entwickelte, sei von 1937 bis 1945 NSDAP-Mitglied gewesen. Eigentlich weder erschütternd noch überraschend, so wenig wie sein „scharfer Schwenk weg von deutschnationaler Rhetorik“. Statt wie 1934 Noldes Expressionismus als „von deutscher Art“ zu rühmen, predigte er nach 1945 das „Mantra von der Abstraktion als Weltsprache“. Für Arend wäre Haftmann jedoch auch ohne NS-Parteibuch als „Kulturrassist“ diskreditiert, weil seine Ästhetik die „westliche Hegemonialkultur Europa zum Epizentrum des globalen Kunstsystems“ erklärte. Da zudem in den Kasseler „Weltkunstschauen“ lange kommunistische Künstler wie John Heartfield und George Grosz fehlten, sei der „Mythos“ von der documenta als „unbeflecktem Gegenentwurf zum Kunstsystem der Nazis erst einmal dahin“. 


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