© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/20 / 10. Juli 2020

Minty muß weg
„Harriet – Der Weg in die Freiheit“ fällt nach verschobenem Starttermin auf das fruchtbare Terrain der aktuellen Rassismus-Debatte
Dietmar Mehrens

Zu verkaufen: Gut aussehendes Mädchen, zwischen 24 und 25 Jahren“, ist auf der Anzeige zu lesen, die Mintys Besitzer überall in der Gegend ausgehängt hat. Minty (Cynthia Erivo) muß weg. Denn sie besteht darauf, in die Freiheit entlassen zu werden. Ihr Ehemann hat sogar einen Anwalt eingeschaltet, der bestätigt, daß das Recht, sie als Sklavin zu halten, erloschen ist. Am besten verkauft man sie also jetzt. Aber die junge Schwarze hat andere Pläne: Sie ergreift die Flucht und schlägt sich von Maryland aus in den benachbarten Bundesstaat durch, wo die Abolitionisten in der Mehrheit sind. Getrennt von ihren Angehörigen will es Minty in der neu errungenen Freiheit jedoch nicht recht gelingen, ein ausgefülltes Leben zu führen. „Herr, warum hast du mich am Leben gelassen?“, betet die tiefgläubige junge Frau, die sich als Symbol für die neu gewonnene Freiheit den Namen Harriet zugelegt hat. Hat Gott einen Plan für sie? 

Beispielhaft für derzeitige US-Diskriminierungsfilme

Filme zum Thema Diskriminierung der schwarzen Minderheit sind integraler Bestandteil der jüngeren US-Kinogeschichte: „The Help“ (2011), „Selma“ (2014), „Hidden Figures – Unerkannte Heldinnen“ (2016) und „Green Book“  (2018) sowie „12 Years a Slave“, der große Oscar-Gewinner von 2014 (mit dem „Harriet“ sich nicht messen kann), sind nur einige Beispiele für die Dauerpräsenz des Themas in der Traumfabrik. Im Januar kam mit „Queen & Slim“ eine „Bonnie & Clyde“-Variation mit schwarzem Heldenduo ins Kino (JF 3/20). 

„Harriet – Der Weg in die Freiheit“ erzählt eine wahre Geschichte – die von Harriet Tubman, die im 19. Jahrhundert erst selbst der Sklaverei entfloh und dann zur Ikone des Befreiungskampfes wurde. Entsprechend teilt sich der Film in zwei Hälften. Mintys Flucht, die das meiste dramatische Potential hat, bildet den ersten, stärkeren Spannungsbogen. Danach weitet sich der Horizont von „Harriet“ zur Filmbiographie und der Film zerfällt in weitere, dramaturgisch schwächere Abschnitte. Sie schildern Harriets wechselvolle Karriere als Fluchthelferin der „Underground Railroad“. So wurde die Organisation genannt, die Sklaven in der Zeit vor dem Amerikanischen Bürgerkrieg zur Flucht bis nach Kanada verhalf. 

Harriet, die einstige Minty, kehrt zunächst nach Maryland zurück, um neun weiteren Schwarzen zur Flucht zu verhelfen. Sie wird so zum ersten weiblichen „Conductor“ (Befreiungshelfer) und steigt zu einer Art Robin Hood der Abolitionisten auf. Als Erkennungssignal für die Fluchtwilligen stimmt sie das bekannte Spiritual „Go Down, Moses“ an und wird so unter dem Tarnnamen “Moses“ zum Schreckgespenst der Sklavenhalter ihrer alten Heimat im Süden. Schließlich kommt es zum finalen Duell mit ihrem größten Widersacher, der als konturloser, aber dramaturgisch wirksamer Bösewicht für die nötigen Schwarzweiß-Kontraste sorgt und die Brücke schlägt zu den Gegenwartsdebatten um rassistische Polizeigewalt und schwarze Opfer in den USA.

Der Film von Regisseurin Kasi Lemmons führt freilich auch die gewaltige Kluft zwischen tatsächlicher und eingebildeter Diskriminierung vor Augen. Während der reale Rassismus, der in der Vergangenheit Ausbeutung und Unterdrückung zur Folge hatte, in urbanen US-Ghettos ganz offensichtlich als Diskriminierungslust überlebt hat, die Polizisten in deren kriminellen Milieus als überhebliche Überlebensstrategie dient, gibt es ebenso offensichtlich einen eingebildeten Rassismus, der eine Waffe in der politischen Auseinandersetzung geworden ist und mit dem Schicksal von „Harriet“ nichts zu tun hat. Der Kampf gegen die Sklaverei war ein Kampf für Menschenrechte. Viele der selbsternannten Antirassisten von heute hingegen wollen durch dogmatische Denk-Daumenschrauben und aggressiven Antipluralismus selbst Menschenrechte unterdrücken.